Auf der Suche nach einem neuen Arrangement mit dem Islam
Es ist zunächst einmal interessant, wie heute zunehmend an die ersten, oben skizzierten eher informellen Debatten und Aktivitäten anknüpft wird:
• Aus den lokalen Begegnungen auf Quartiersebene zwischen engagierten Laien und Vertretern islamischer Gemeinden sind vor allem wegen der Auseinandersetzungen um den Bau islamischer Religionsstätten und den Religionsunterricht „interkulturelle bzw. interreligiöse Dialoge“ geworden.
• Aus den interreligiösen Dialogen zwischen christlichen Kirchen und islamischen Gemeinden über abrahamitische Fragestellungen sind durch konfessionelle Bildungswerke initiierte Begegnungen entstanden.
• Und aus den hier und da platzierten religionsübergreifenden Friedensgebeten sind interreligiöse Events geworden.
Vor diesem Hintergrund wird klar, was es mit dem Staatsvertrag in Hamburg auf sich hat: Er schafft zwar kein neues Rechtsverständnis in Sachen Staat-Religion, aber man versucht die urbane Wirklichkeit zumindest im Rahmen des aktuellen Rechtsverständnisses anzuerkennen. Hamburg sieht sich genötigt, endlich den Islam als dritte religiöse Säule in Deutschland wahrzunehmen. So heißt es in der Mitteilung der hanseatischen Senatskanzlei vom 14. August 2012 (Pressemitteilung 2012):
Die Verträge sind eine Geste. Die Stadt erkennt an, dass es den Islam in Hamburg gibt und Hamburgerinnen und Hamburger muslimischen und alevitischen Glaubens gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger unseres Gemeinwesens sind. Die Verträge schaffen unabhängig von bereits bestehendem Recht Klarheit in verschiedenen Bereichen des religiösen Zusammenlebens.
In diesem Fall sind es eine Stadt und ein Land in einem, was alles erheblich einfacher macht, weil die Anerkennung einer Religion erst einmal in die Zuständigkeit der Länder fällt. Er ist insoweit Ausdruck eines unter vielen Mühen schrittweise entwickelten Arrangements. Der Vertrag dokumentiert aber auch, was spätestens im Vergleich zu den Staatsverträgen mit den etablierten Kirchen klar wird – nämlich die Einschätzung, dass der Islam doch nur eine Religion „irgendwie“ von minderer Bedeutung ist: Der Staatsvertrag gibt einerseits dem Wunsch des Staates nach politischer Kontrolle der Religion nach, wenn immer wieder die Grundgesetzestreue der „neuen“ Gemeinschaften beschworen wird, und er gibt andererseits, wenn auch in sehr dosierter Form (im Sinn eines Anhörungsrechtes), dem Wunsch der islamischen Gruppierungen nach einer Beteiligung am Religionsunterricht und an der Religionslehrerausbildung nach. Diese beiden Punkte sind im Kern das, was im Vertrag über ansonsten im Rahmen des bürgerlichen Rechtes ohnehin schon geltende Bestimmungen und Reglungen hinaus geht und was zumindest andeutungsweise in Richtung eines Konkordats zielt.
Interessant ist für die vorliegende Fragestellung vor allem, was alles nicht in dem Staatsvertrag enthalten ist. Den islamischen Gemeinschaften bleibt „selbstverständlich“ der Status einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung (mit Zugang zu einer vom Staat erhobenen Kirchensteuer usw.) genauso wie ein unmittelbarer Einfluss auf entsprechende theologische Fakultäten mit ihren Konkordatslehrstühlen und die Religionslehrer_innenausbildung (anders als z. B. in Österreich) mit eigenen vom Staat refinanzierten Fachhochschulen und selbstverständlich ein eigenes Beamtenrecht (einschließlich der vom Staat bezahlten Leitungspersonen wie dem Kölner Kardinal) verwehrt. Es heißt nur in § 5 in der erläuternden Protokollerklärung:
Die Freie und Hansestadt Hamburg wird sich deshalb unter Beachtung der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre dafür einsetzen, dass die islamischen Religionsgemeinschaften vor der Berufung einer Hochschullehrerin oder eines Hochschullehrers die Möglichkeit zur Stellungnahme erhalten, ihnen Gelegenheit gegeben wird, sich zu Lehrinhalten zu äußern, soweit sie schwerwiegende Abweichungen von den islamischen Glaubensgrundsätzen geltend machen, und sie in die Erarbeitung von Grundsätzen für eine Akkreditierung von Studiengängen und Formulierung von Prüfungsanforderungen einbezogen werden.
Dieses Anhörungsrecht wird allerdings nur bei Einstimmigkeit der islamischen Partner gewährt.
Zweifellos schafft dieser Staatsvertrag kein gleiches Recht für alle. Natürlich werden die den etablierten Kirchen eingeräumten Privilegien hier nur punktuell berücksichtigt. Aber kann es nicht sein, dass in dem Staatsvertrag eine Linie eingeschlagen und eine Logik entwickelt wird, die letztlich auch für die anderen Verträge mit den etablierten Kirchen längst überfällig wäre?
Die Zurückhaltung, die in dem Vertrag mit dem Islam zur Geltung kommt, mag zwar einer nach wie vor dem Islam gegenüber praktizierten Zurückhaltung und einem gewissen Misstrauen geschuldet sein. Sie steht aber eigentlich längst überall an, wo der Staat mit einer Religion „ins Geschäft“ kommt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Staatsvertrag einerseits zwar den Islam nur als eine „mindere“ Größe akzeptiert, damit andererseits aber der heute überall zu beobachtenden Ent-Institutionalisierung der Kirchen und der Durchsetzung moderner Alltagsreligionen – wenn auch unbeabsichtigt – durchaus entgegen kommt (Bukow 2012b, 236 S. 175 f.). So besehen, trägt der Staatsvertrag, wenn man einmal von dem in ihm an zentraler Stelle implementierten staatlichen Kontrollwunsch in der Tradition des Staatskirchentums absieht, einem geradezu post-modernen und tatsächlich zukunftsorientierten Verständnis vom Verhältnis Religionen-Staat Rechnung. Dieser Staatsvertrag könnte gerade wegen seiner „Mängel“ dazu beitragen, das überkommene Staatskirchentum endlich zu überwinden und in eine Richtung zu entwickeln, die der postmodernen Wirklichkeit von einem säkularen Staat und ent-institutionalisierten Alltagsreligionen durchaus adäquat ist. Die in dem Staatsvertrag zum Ausdruck kommende Distanz zwischen den Religionen und dem Staat und dem Staat als einer gegenüber Religionen usw. neutralen Institution – beides ist eigentlich wegweisend, müsste nun allerdings auch gegenüber anderen etablierten Religionen geltend gemacht werden.
Es käme nun nicht nur darauf an in allen Bundesländern den Islam als eine Realität anzuerkennen, sondern auch darauf, die Gelegenheit zu nutzen, das Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft grundsätzlich neu zu regeln und endlich die Säkularisierung der Gesellschaft zu vollenden. Wie wichtig das ist, das lehrt auch die weltweit zu beobachtende Re-Politisierung von Alltagsreligionen, die allmählich zumindest in ihrer fundamentalistischen Ausprägung selbst in den Hochreligionen längt zu einem massiven globalen Problem geworden ist. Allerdings dürfte der Weg in dieser Richtung noch weit sein. Wenn man sich die Präambel im Lehrplan für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen für den Islamischer Religionsunterricht anschaut (Ministerium 2013), so zeigt sich, dass der Weg noch weit ist, heißt es dort doch: „Islamischer Religionsunterricht gewährleistet den Anspruch des Kindes auf religiöse Bildung. Er gründet seinen Bildungs- und Erziehungsauftrag auf die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen sowie auf das nordrhein-westfälische Schulgesetz.“ Aber es heißt eben auch: Das Fach Islamischer Religionsunterricht orientiert sich an dem Erziehungsziel „Ehrfurcht vor Gott [und] Achtung vor der Würde des Menschen“. Man bezieht sich also nicht auf einen Bildungsauftrag, sondern auch auf eine religiöse Norm (gemeint ist letztlich auch noch eine christliche Norm). Es wird also noch dauern. Die gebotene Distanz zwischen Gesellschaft und Religion sowie der Neutralität des Staates gegenüber einer Religionsgemeinschaft wird sicherlich erst dann durchgesetzt werden können, wenn sich der Inklusionsgedanke angesichts weiter zunehmender Mobilität und Diversität allmählich veralltäglicht.
Literatur
Bukow, W.-D., & Yildiz, E. (2003). Islam und Bildung. Opladen: Leske & Budrich.
Bukow, W.-D. (2011). Die Bedeutung der Gülen-Bewegung als sozio-kulturelle Initiative in der Zivilgesellschaft. In Ursula Boos-Nünning u. a. (Hrsg.), Die Gülenbewegung zwischen Predigt und Praxis (S. 175 ff.). Münster: Aschendorff-Verlag.
Bukow, W.-D. (2012a). Reden über die Religion. cedis.uni-koeln.de. Zugegriffen: 9.
Juni 2014.
Bukow, W.-D. (2012b). Muslimische Parallelgesellschaft oder ein postmodernes religiöses Milieu? In R. Ceylan (Hrsg.), Islam und Diaspora. Analysen zum muslimischen Leben in Deutschland aus historischer, rechtlicher sowie migrations- und religionssoziologischer Perspektive (S. 231 ff.). Reihe: ROI – Reihe für Osnabrücker Islamstudien (Bd. 8, Frank furt a. M.: Lang).
Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen. (2013). Lehrplan für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen für den Islamischen Religionsunterricht. Düsseldorf. standardsicherung.schulministerium.nrw.de/lehrplaene/lehrplan- navigator-grundschule/.
Pressemitteilung der hanseatischen Senatskanzlei (14. August 2012). In: ham- burg.de/pressearchiv-fhh/3551764/2012-08-14-sk-vertrag/.
Steinbach, U., & Khallouk, M. (2011). Die deutsche Orientalistik der Gegenwart – Vermittler gesellschaftlicher Erkenntnis oder Instrument wissenschaftlicher Bestätigung islamfeindlicher Ressentiments? Ein Dialog Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie, 18(3), 94–116.
Streib, H. (1998). Alltagsreligion oder: Wie religiös ist der Alltag? Zur lebensweltlichen Verortung von Religion in praktisch-theologischem Interesse. International Journal for Practical Theology, 2, 23–51.