Das Ruhrgebiet als Heimat? Eine Diskussion zur Zeit der Weimarer Republik

Die Region als Schnittpunkt politischer, wirtschaftlicher und sozialer Krisenlinien

Das Ruhrgebiet sei zurzeit, so 1929 das Resümee in der neuen bücherschau, „wohl das wichtigste und das ungleich interessanteste Gebiet der Republik“ (Feiler 1929, S. 110; Blotevogel 2001b, S. 1–42). Tatsächlich war das Industriegebiet in den zwanziger Jahren zu einem bevorzugten Thema einer breiten Publizistik aufgestiegen. In ihr waren nicht nur literarische Richtungen vom proletarischen Reportageroman über das Reisebild des bürgerlichen Betrachters bis zur Memoirenliteratur der Freikorpskämpfer vertreten, sondern ebenso Veröffentlichungen von so unterschiedlichen Autorengruppen wie Kommunen (Städtewerbung), Heimatvereinen und Volkskundlern, die die „Exotik der Nähe“, also das Faszinosum Ruhrgebiet, erkunden wollten (Prümm 1982, S. 362).

Die Umwälzungen im Gefolge des Ersten Weltkrieges verwandelten das Interesse am Anderen in eine aufmerksame Beobachtung der Entwicklung im Revier. Hier schien dem zeitgenössischen Beobachter ein Brennpunkt grundlegender innen- und außenpolitischer Probleme der Weimarer Republik. Die Novemberrevolution 1918, die große Streikbewegung der Arbeiter im Jahr 1919 (beide mit dem Ziel der Sozialisierung des Bergbaus) und die Märzrevolution bzw. der Ruhrkampf 1920 (Lucas 1973; Fittkau und Schlüter 1995) schrieben sich in das kollektive Gedächtnis vor Ort wie im übrigen Reich ein. Ein ohnehin verunsichertes Bürgertum sah sich im Ruhrgebiet direkt mit der gerade in jenen Jahren vielfach beschworenen „roten Gefahr“ konfrontiert.

Die Region litt zudem unmittelbarer als manch anderer Teil des Reiches unter den außenpolitischen Belastungen der jungen Republik: durch die im Versailler Vertrag festgelegte, zeitlich begrenzte Besetzung linksrheinischer Gebiete und einiger rechtsrheinischer Brückenköpfe, die Besetzung Duisburgs und Düsseldorfs 1921 im Zuge der Politik der „produktiven Pfänder“ (Lück 1994, S. 341 ff.) und durch den Einmarsch belgischer und französischer Truppen in die übrigen Teile des Ruhrgebiets 1923 (Kraume 1994, S. 345 f.).

Als sich die politische und wirtschaftliche Lage nach 1924 stabilisierte, wandten sich Beobachterinnen und Beobachter verstärkt den Wandlungen eines Wirtschaftsraums zu, in dem die bereits vor dem Krieg eingeleitete Modernisierung der Strukturen eine deutliche Dynamisierung erfuhr. Besitzkonzentration, Technisierung der Arbeitsverfahren, Rationalisierung schritten rasch voran. Das Revier schien sich als ideales Objekt anzubieten, um das mit all seinen Auswirkungen auf Wirtschaft, Arbeitswelt und soziales Gefüge zu studieren, was manche im Reich als ökonomische Spielart des Amerikanismus kritisierten.

Anreize für eine intensive Auseinandersetzung mit den Geschehnissen an der Ruhr gab es folglich genug. Und sie wurden vielfach aufgegriffen, so dass eine breite und differenzierte Erörterung der Ruhrgebietsentwicklung entstand. [1] Die Berichterstattung von Presseorganen in der Region wie im übrigen Reich wurde ergänzt durch Dokumentationen, Erlebnisberichte und fiktionale Texte etwa über Ruhrkampf und Ruhrbesetzung. Die – im weitesten Sinne verstanden – „Reiseliteratur“ über das Revier erhielt neue Facetten, als vor allem in der zweiten Hälfte der Dekade seine Besonderheiten in den überregionalen Blättern Beachtung fanden. Sie wurden beschrieben und kommentiert von Besuchern wie Joseph Roth, Heinrich Hauser oder Egon Erwin Kisch oder ‚Insidern' wie Erik Reger. Unter Kommunalpolitikern, Künstlern und Journalisten der Revierstädte entspann sich, wie es Matthias Uecker in seiner Untersuchung der Kulturpolitik im Ruhrgebiet in den zwanziger Jahren darlegt, eine rege, in die Öffentlichkeit getragene Diskussion. Darin ging es nicht zuletzt um die Klischees, die es zu überwinden, und um die Elemente, die es als vermeintlich wahre Merkmale des Ruhrgebiets an ihre Stelle zu setzen galt (Uecker 1994, S. 20).

  • [1] Trotz der großen publizistischen Aufmerksamkeit sei das Revier, wie Erik Reger unter seinem Pseudonym Fritz Schulte Ten Hoevel 1930 erklärte, noch immer Deutschlands „unbekannteste[] Landschaft“, weil die ‚rasenden Reporter' auf ihrer Durchreise nicht wirklich hinsähen, grotesken Täuschungen unterlägen und später ihre erheblichen Wissenslücken mit Aussagen überdeckten, die eine gute Kenntnis der Materie suggerieren sollten (Schulte Ten Hoevel 1930, S. 27–30; Reger 1930).
 
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