Ein Blick auf„Heimatsfremde“?

Der Beitrag der Landeskundler, Volkstumsforscher und Natur- und Heimatschützer

Zum Charakter der Region meldeten sich in den zwanziger Jahren zudem Landeskundler, Volkstumsforscher sowie Natur- und Heimatschützer mit wachsendem Nachdruck zu Wort (Uecker 1997, S. 139 f.). In volks- und landeskundlichen Studien, in den Heimatvereinen und ihren Organen (Uecker 1997, S. 143), z. T. den lokalen Tageszeitungen beigefügt, [1] erörterten meist bürgerlich-konservative Zeitgenossen die Fragen nach dem Wesen der Region, seiner Bevölkerung und nach dem Potential des Reviers, Heimatliebe, also ein Gefühl der Zugehörigkeit zu erzeugen. Die Vorstellungen dieser Gruppe, die im Folgenden im Mittelpunkt stehen, waren längst nicht auf ihren Kreis beschränkt. Wie sich in Anlehnung an vorliegende Studien über andere Kommentatorinnen und Kommentatoren der Weimarer Zeit vermuten lässt, war vielmehr das Gegenteil der Fall.

Die Volkskundler, Heimat- und Naturschützer leiteten ihre Gedanken zum Ruhrgebiet als Heimat damit ein, dessen Eigenheiten – das hieß vor allem seine montanindustrielle Prägung – zu beschreiben. Immer wieder evozierten sie ein Bild, in dem die gesamte Region in „Kohlenrauch, Eisenstaub und Hochofenfeuer“ (Schäfer 1925, S. 192) versank. Eine allein materialistischem Gewinnstreben folgende Industrialisierung habe hier nicht nur die Natur zerstört, sondern ebenso die frühere bäuerliche Kulturlandschaft, die einzige Art der Kulturlandschaft, die konservative Heimat- und Naturschützer als Quelle von Heimatverbundenheit gelten lassen wollten. Dem unbarmherzigen Geist des Industrialismus seien auch die dort lebenden Menschen unterworfen. Sie seien zu einem großen Teil „Heimatsfremde“, die in der Regel „niederen Kulturbereichen“ entstammten, wie Hans Klose 1919 schrieb. Die Mischung der unterschiedlichen Völker habe, wie der Journalist und Volkskundler Wilhelm Brepohl (1948) [2] betonte, einen eigenen Menschenschlag entstehen lassen: das „Industrie-“ oder „Ruhrvolk“ (Brepohl 1926, S. 249).

Bemerkenswert für Brepohl war nicht nur die soziale Komponente der ausnahmslos der Arbeiterschicht zugerechneten neuen Einwohnerschaft:

Die aus der Heimat Fortgezogenen werden im weitesten Sinne zu Entwurzelten, bis schließlich sogar die innere Ordnung des Volks sich auflöst. Denn festen Boden unter den Füßen haben nur die, die schon seit Jahrhunderten ansässig sind, alle anderen wissen nicht, was sie sollen (Brepohl 1926, S. 249 f.).

Was diesem „Ruhrvolk“ nach seiner Einschätzung also fehlte, war die Zugehörigkeit zu Land und kulturell-ethnischer Herkunft. Der Volkskundler ging demnach davon aus, dass die Zugewanderten die Träger einer traditionslosen und defizitären Lokalkultur seien, nicht einmal ihre eigenen Traditionen noch aufweisen und sich darin verortet und aufgehoben sehen konnten.

Insgesamt erschien das Ruhrgebiet als Inbegriff aller Missstände, die konservative, kulturpessimistische, großstadtfeindliche und, mit einem wachsenden Anteil an der heimatkundlichen Publizistik, völkische Kreise der Moderne zuschrieben. Es war Gegenbild zum Ideal einer bäuerlichen Kultur, eine denaturierte Landschaft, Lebensumfeld zugezogener, identitäts- und „vaterlandsloser“ Massen, kurz: eine Gefahr für die Ordnung in Staat und Gesellschaft (Blotevogel 2001a, S. 5). [3] Angesichts der politischen und sozialen Spannungen nach dem Ersten Weltkrieg erschien es den genannten Betrachtern umso dringlicher, einen Weg für die dauerhafte Stabilisierung der Ruhrgebietsgesellschaft zu finden. In einem Konzept von Heimatverbundenheit, das alle negativen Züge der Industriegesellschaft zu überwinden versprach (Uecker 1997, S. 143), entdeckten sie jenes Mittel, mit dem sich dies erreichen ließ. Das Bestreben, dem Industrievolk „das schwarze Land zur Heimat [zu] machen“, stieg innerhalb kurzer Zeit zu einer bedeutsamen Aufgabe auf (Schneider 1925, S. 159). [4] Um sie erfüllen zu können, mussten jedoch die früher geäußerten Zweifel daran beseitigt werden, ob das Revier überhaupt „heimatfähig“ sein könne. Ein positives Bild vom Ruhrgebiet sollte eben dies leisten.

In der Folge fächerten sich die Deutungen der Region im Nachkriegsjahrzehnt weiter auf.

Manche der Deutungen lassen erkennen, welche Schwierigkeiten die meist männlichen Betrachter bei dem Bestreben hatten, der „Höllengegend“ (Schäfer 1925, S. 193) Züge abzugewinnen, die der Heimatschützer als Ausgleich für den Verlust an Natur und damit des Ursprungs nationaler Stärke akzeptieren konnte. In der Mehrzahl der Darstellungen erfuhr die Zerstörung der Landschaft, die sich nun einmal nicht übersehen ließ, eine Relativierung. Außerdem wurde sie mit Merkmalen kontrastiert, die als Aktivposten des Industriegebiets hervortraten: die Größe der Produktionsanlagen, die moderne Technik, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und der Fleiß der Arbeiterschaft. Wenn dabei Boden, Luft und Flüsse verschmutzt wurden, ließ sich das hinnehmen, da die Industrie insgesamt segensreich sei. „…es ist immer noch besser, Dunst und Rauch zu ertragen, als in einem Industriegebiet bei klarer Luft zu hungern. Im übrigen sind diese Nachteile oft übertrieben worden“ (Spethmann 1933, S. 585), lautete ein Fazit von 1933.

Wie die Montanindustrie erhielten auch die „Ruhrmenschen“ neue Attribute. Die Autoren umwarben das sogenannte „werktätige Volk“ (Ehlgötz 1925, S. 5) mit Formulierungen, die seine Leistungen in Krieg und Nachkriegszeit herausstellten. Diese seien erbracht worden in dem Wissen, wie es 1931 hieß, „daß nur in der Erhaltung der deutschen Volkseinheit und dem Zusammenstehen aller Volkskreise und nimmermüder Arbeit die deutsche Volkswirtschaft erhalten werden“ (Schulte 1931, S. 145; Predeek 1923, S. 23 f.) könne.

Den größten argumentativen Salto mussten die Fürsprecher einer vorindustriellen Kulturlandschaft allerdings machen, um der Industrielandschaft eine eigene Ästhetik zubilligen zu können – nicht alle versuchten ihn, nicht allen gelang er. [5] Was nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich als Anziehungskraft des Abstoßenden zum Topos der Ruhrgebietsdarstellung und noch einmal rund zwanzig Jahre später zur Ästhetik der Industriekultur avancierte, begann in der dritten Dekade des 20. Jahrhunderts als Staunen über eine Stadt- und Industrielandschaft, die dem Auge des Schauenden keine Ruhe gönnte (Schulte 1931, S. 145). [6] Paul Schneider, der mit seinem „Heimatbuch für das rheinisch-westfälische Industriegebiet“ 1925 die Absicht verfolgte, das Industrieland als Heimat erkennbar werden zu lassen, erhob die andere Ästhetik des „Land[es] der tausend Feuer“ (Potthoff 1925, S. 1) ausdrücklich zum regionalen Spezifikum und zum Ursprung einer starken Heimatverbundenheit (Blotevogel 2001a, S. 10). Als Aufforderung an die zugezogenen Bewohnerinnen und Bewohner des Ruhrgebiets wurde das wie folgt formuliert: „Ihr könnt hier eine zweite Heimat finden und werdet sie lieben, wenn Ihr Herz und Augen auftut und um Euch schaut im Ruhrland, mögt Ihr bei seinem ersten Anblick auch gedacht haben, Ihr müßtet inmitten dieser Welt verkümmern und vergehen.“ Wäre den Proletariern das Ruhrgebiet erst als „Stätte erdgebundenen Empfindens und Erlebens“ (Spethmann 1933, S. 5) vermittelt – die Fähigkeit, selbst ein (neues) Heimatbewusstsein zu entwickeln, sprachen ihnen die Träger dieser pädagogischpolitischen „Mission“ ab –, könnte das Volk insgesamt unter der unbestrittenen Führung eines konservativ bzw. völkisch denkenden Bürgertums zu einer neuen Geschlossenheit und Leistungsfähigkeit finden (Ehlgötz 1925, S. 5). Heimatliebe war letztlich politische und soziale Notwendigkeit (Klose 1919, S. 424). [7]

  • [1] Die umfangreicheren Zeitschriften hatten Titel wie: Die Heimat. Monatsschrift für Land, Volk und Kunst in Westfalen und am Niederrhein, herausgegeben vom Westfälischen Heimatbund, oder Die westfälische Heimat.
  • [2] Brepohl sei der „erste [] Volkskundler der Region“ gewesen (Uecker 1994, S. 27).
  • [3] Die Völkermischung sei in ethnischer wie kultureller Hinsicht ein Konglomerat. Brepohl spricht von einem „unklare[n] Kulturbrei“ (Brepohl 1922, S. 170 f.).
  • [4] Hans Klose formulierte es 1919 bereits so, dass „Heimat- und Naturschutz zur sozialen Notwendigkeit“ erhoben wurde (Klose 1919, S. 424).
  • [5] Es gab ebenso Skeptiker, die den „Realisten“ als Befürworter eines auf die aktuelle Situation im Industriegebiet gemünzten Bildes entgegentraten. Heimatliebe, so erklärten sie, lasse sich nicht einfach „aus dem Nebel der Romantik in den Qualm der Schlote“ verschieben (Dresemann 1925, S. 299). Als dritte Gruppe sind die Vertreter völkischer, kulturpessimistischer und antimodernistischer Kreise anzusehen, die bei ihrer negativen Beurteilung blieben, z. B. das „Maschinenwesen“ als „Wunde“ am ehemals heilen Volkskörper begriffen (Uecker 1994, S. 23).
  • [6] Es gab zudem Äußerungen, die auf ein in dieser Zeit bereits vorhandenes Gespür für eine ‚Ästhetik des Hässlichen' hinwiesen (Naumann 1964, S. 194). Insgesamt herrschte in den zwanziger Jahren jedoch der beängstigte Blick der Reporter auf das vor, was sie als das Monströse, Chaotische, Unheimliche des Reviers vorstellten (Prümm 1982, S. 362). Damals und in späteren Beschreibungen rückten vor allem die Vielfalt, Dynamik und die Kontraste des Ruhrgebiets ins Zentrum der Aufmerksamkeit bzw. des Bildes (Schütz 1987, S. 94).
  • [7] In der Tendenz der Wertung wiesen völkische und linke Kreise Ähnlichkeiten auf, denn auch die Linken konstruierten sich ein wirklichkeitsfernes Bild, und zwar das von der Überwindung der Spaltungen unter einem universellen, ökonomisch definierten Klasseninteresse. Wie die Völkischen träumten sie von der Einheit, nur sollte das Ruhrgebiet nicht deutsch wie bei jenen, sondern proletarisch sein (Uecker 1994, S. 28).
 
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