Station 1: Die mangelernährte Frau und Mutter

Leben schenken ist lebensgefährlich

Beginnen wir nun unsere Karussellfahrt mit einer typischen jungen afrikanischen oder auch asiatischen Frau, geboren in einer ländlichen Familie, die es in guten Jahren schafft, sich durch die landwirtschaftlichen Erträge zu ernähren, in weniger guten auf Nahrungshilfe angewiesen ist oder aber auf Nahrung verzichten muss.

Eine der vielen kleinen Inseln rund um Sansibar, nur mit dem Fischerboot erreichbar, dicht bewaldet, mit kleinen Strandnischen, an denen außer Strandgut und vereinzelten Steinen nichts zu sehen ist. Ein schmaler Trampelpfad führt leicht bergan und mündet in einen breiteren Sandweg, an dessen Rand vereinzelte Hütten, ein Brunnen, ein Gemeinschaftshaus, wie man uns später erklären wird, die Schule und das medizinische Behandlungszentrum stehen. Weiter geht es den Weg entlang, immer wieder durch dichten Laubwald und vorbei an Hütten, die sich zwischen den Bäumen wie zufällig verteilen. Dann am Wegrand fünf Jungen, die uns lachend – eher auslachend, auf unsere Bäuche und die Sonnenbrillen zeigend – empfangen. Alle fünf sind kleinwüchsig, schlank, aber nicht sichtbar unterernährt, bis auf einen, über dessen Bauch sich ein T-Shirt mit der Aufschrift „Keep smiling“ spannt. Aber das ist nicht etwa das, was wir unter Bauch verstehen, sondern ein Bauch infolge von Eiweißmangel und Unterernährung.

Es beginnt zu regnen, erst einige dicke Tropfen, die dann schnell zum tropischen Regen werden. Wir flüchten uns unter das Dach einer Hütte und werden sogleich freundlich hereingebeten. Im halbdunklen Inneren verschwindet das junge Mädchen, das uns hereingebeten hat, in einem durch einen Vorhang abgetrennten Raum. Der Boden, gestampfter Lehm, ist gekehrt und ohne jeden Schmutz, an der Wand ein paar bunte Federn, sonst nichts. Der nebenan liegende Raum bleibt uns verschlossen, bis das junge Mädchen, begleitet von einem etwa zweijährigen Kind, mit Tee zurückkommt. Sie dürfte, so zierlich und kindlich, wie sie erscheint, unserer Schätzung nach höchstens zwölf bis 13 Jahre alt sein. Wir fragen über unseren Dolmetscher, ob die Kleine ihre Schwester sei und wie sie heiße. Die Frage wird mit einem Redeschwall und lautem Lachen quittiert. 19 Jahre ist sie, das Kind bereits ihr zweites und auch schon drei Jahre alt. Doimon, ihr Sohn, kommt bald in die Schule. Sie lacht immer wieder auf und verschwindet dann mit einer eleganten Verneigung hinter dem Vorhang.

Wie wir später erfahren, werden die jungen Mädchen meist mit 13 oder 14 Jahren verheiratet und bekommen dann sehr bald Kinder. Die Sterblichkeit unter der Geburt ist hoch, eine wirkliche medizinische Versorgung gibt es nicht. Die Neugeborenen werden meist lange gestillt, die Muttermilch ist arm an lebenswichtigen Mikronährstoffen, und die Kinder sind von Anfang an unterernährt. Überall sieht man die arbeitenden Mütter, ein Kind an der Hand, ein weiteres an die Brust angelegt. Diejenigen, die schon laufen können, erhalten Maniokbrei oder Cassava; wenn sie nicht satt werden oder unzufrieden sind, werden auch sie an die Brust angelegt. Die Chance auf eine regelrechte Entwicklung ist gering, die Sterblichkeit hoch, die Kinderzahl jedoch auch.

Der Regen hat aufgehört, die Erde dampft, wir verlassen die Hütte und laufen barfuß, die Schuhe würden im Lehm stecken bleiben, zurück zum Boot, vorbei an Schiffe bauenden Männern – drei der fünf Jungen winken uns fröhlich zu. Auf einer seitlich gelegenen Lichtung steht eine Gruppe junger Mädchen lachend um einen Brunnen. Kleine Kinder wuseln um sie herum, einige haben die jungen Mütter im Tragetuch, andere wieder an der Brust. Es geht fröhlich zu hier am Brunnen, die Sonne kommt durch die Wolken – eine trügerische Idylle.

MDG 5 fordert eine Reduktion der Müttersterblichkeit (Maternal Mortality Rate, MMR) um 75 % bis zum Jahr 2015!

Abb. 4.2 Müttersterblichkeit 1990 (dunkelgrau) im Vergleich zum Jahr 2005 (hellgrau) (UNICEF 2009).

Begleiten wir unsere junge Frau auf ihrer unfreiwilligen Karussellfahrt. Sie wird verheiratet, wird rasch schwanger und hat keinerlei Chance, ihre Mangelernährung aufzuholen. Die Schwangerschaft wird sie auslaugen; das neue Leben wird sich das holen, was noch da ist. Die Natur hat dafür gesorgt, dass sich Leben auch entwickelt, wenn nur geringe Ressourcen vorhanden sind. Und so gibt es einen zweiten Mitfahrer auf dem Karussell, der nur indirekt in Erscheinung tritt, aber bereits Platz genommen hat und schon jetzt Armut und Mangelernährung mit auf den Weg bekommt. Das ungeborene Kind ist bereits jetzt das kleine „Spiegelbild“ der Mutter: mangelernährt, untergewichtig, ohne reale Chance, von diesem Karussell lebend abzuspringen.

Jede Minute stirbt eine junge Frau unter der Geburt oder kurz danach. 99 % dieser verstorbenen Mütter lebten in Entwicklungsländern, und das Sterblichkeitsrisiko für Frauen aus diesen Ländern ist etwa 200bis 500-fach höher als in entwickelten Ländern (WHO 2004; Abb. 4.2).

Die jetzt vorgelegten Zahlen der UNICEF (UNICEF 2012a) ergeben eine weitere Reduktion der Müttersterblichkeit vor allem in Asien. Die meisten Todesfälle, so der Bericht, wären aber vermeidbar, und so bleibt die traurige Realität, dass das Risiko einer Mutter durch Komplikationen während oder kurz nach der Geburt zu versterben in Subsahara-Afrika bei 1:39 liegt, im Vergleich zu reichen Nationen, wo es bei 1:4700 liegt. Zweifellos haben Fortschritte in der Hygiene sowie bei der Betreuung vor und nach der Geburt einen wesentlichen Einfluss auf diesen Rückgang; einer der wesentlichen Gründe, die Mangelernährung der Mutter, besteht jedoch nach wie vor.

Solange die Mehrheit der Geburten (je nach Land 60–80 %) zu Hause und ohne Betreuung stattfindet, wird sich an diesen erschreckenden Zahlen wenig ändern. Zwar wird von Hilfsorganisationen und staatlichen Stellen viel unternommen, von einem Erreichen des MDG 5 kann aber trotz allem kaum gesprochen werden. Stirbt die Mutter während oder kurz nach der Geburt, so hinterlässt dies, wenn überhaupt, nur sehr lokal begrenzte Reaktionen.

Die Süddeutsche Zeitung (Judith Raupp) titelte am 8. März 2010 „Schwanger, tot, unbeachtet“ und beschrieb das schwer vorstellbare Leid der Frauen.

„Jedes Jahr sterben in den Entwicklungsländern Hunderttausende werdende Mütter. Die Gründe sind bekannt, die Konsequenzen lassen auf sich warten.

Die Mädchen sind manchmal selbst noch Kinder, wenn sie Kinder bekommen. Und oft endet die Schwangerschaft mit dem Tod. 536 000 Frauen, darunter viele Teenager, sterben nach UN-Angaben jedes Jahr während der Schwangerschaft oder der Geburt – fast alle in Entwicklungsländern. ‚Allein im Kongo kommen jedes Jahr so viele Mütter ums Leben, wie wenn jeden vierten Tag ein vollbesetztes Flugzeug abstürzen würde', sagt Lyn Lusi, Gründerin des Krankenhauses Heal Africa in der Stadt Goma. Weil aber der Tod einzelner Frauen in der Wildnis Afrikas weniger spektakulär sei als ein Flugzeugabsturz, nehme die Welt kaum Notiz von der Tragödie.

Frauen in den ärmsten Ländern der Welt haben ein dreihundert Mal höheres Risiko, an den Folgen von Schwangerschaft und Geburt zu sterben als in den Industrieländern. Dies ist ein Ergebnis des UNICEF-Jahresberichts ‚Zur Situation der Kinder in der Welt 2009'. In keinem anderen Bereich der Gesundheitsversorgung ist nach Einschätzung von UNICEF die Kluft zwischen wohlhabenden Ländern und armen Weltregionen so groß wie bei der medizinischen Versorgung von werdenden Müttern.

So sterben jedes Jahr schätzungsweise 530 000 Frauen an Komplikationen während der Schwangerschaft oder der Geburt, darunter sind rund 70 000 Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren. 99 Prozent dieser Todesfälle entfallen auf die Entwicklungsländer – zwei Drittel allein auf zehn Länder.

Die Frauen sterben qualvoll an Blutungen, Infektionen, Blutvergiftungen und Geburtskomplikationen oder an den Folgen unsachgemäßer Abtreibungen. Lebensgefährlicher Bluthochdruck (Eklampsie), Eisenmangel, HIV-Infektionen, zu frühe oder zu kurz aufeinander folgende Schwangerschaften sowie Mangelernährung tragen zum hohen Risiko bei. Auch wenn sie überleben, tragen Millionen Frauen lebenslange Beschwerden und gesundheitliche Schäden davon, die für zukünftige Schwangerschaften wiederum ein Risiko darstellen.“

Tab. 4.1 Müttersterblichkeit pro 100 000 Lebendgeburten in 1980 und 2008.

Malawi

743

1140

Tschad

891

1065

Bangladesch

1329

338

Pakistan

746

376

Haiti

1122

582

Barbados

99

78

Zypern

148

41

Nordamerika

12

17

Deutschland

20

7

(„Schwanger, tot, unbeachtet“, Judith Raupp, Süddeutsche Zeitung, 08.03.2010)

Dieser Artikel war die Reaktion auf die Veröffentlichung einer Studie, die sich mit der Entwicklung der Müttersterblichkeit in 181 Ländern in den Jahren von 1980 bis 2008 befasst (Hogan et al. 2010).

Die in Lancet, einer der wichtigsten wissenschaftlichen Zeitschriften, veröffentlichte Analyse hat zwar insgesamt einen Rückgang der Sterblichkeit zwischen 1980 (526 000) bis 2008 (343 000) ermittelt, allerdings gibt es immer noch eine Reihe von Ländern, die keinen Rückgang und teilweise sogar eine Zunahme (Zimbabwe 5,5%) zu verzeichnen haben. Der Rückgang der Sterblichkeit zeigt, dass es Programme gibt, die greifen, dass es allerdings auch immer noch viele Länder gibt, wo kaum Fortschritte erzielt werden. Mehr als 50 % aller Todesfälle finden sich in sechs Ländern: Indien, Nigeria, Pakistan, Afghanistan, Äthiopien und Kongo. Ein Viertel der Frauen sind zwischen 15 und 20 Jahre alt (UNICEF 2010).

In Südostasien und Subsahara-Afrika werden 50 % der jungen Mädchen vor dem 18. Geburtstag und oft schon vor der Pubertät verheiratet. Armut und/oder Tradition sind der Grund dafür, sie sollen die Familie nicht weiter belasten. Werden sie dann schwanger, so bedeutet dies das Ende ihrer physischen Entwicklung und zudem ein hohes Risiko für eine Frühgeburt oder die zeitgerechte Geburt eines untergewichtigen Kindes.

In Indien, wo 40 % aller Kinder mit zu niedrigem Geburtsgewicht geboren werden, waren 8 % der Frauen, die 2006 zwischen 20 und 24 Jahre alt waren, bei der Geburt des ersten Kindes unter 16 Jahre alt (UNSCN 2010). Die von ihnen geborenen Kinder treten wiederum in den Hungerkreislauf ein.

Um sich eine Vorstellung über die Dimensionen machen zu können, werden in Tab. 4.1 einige Zahlen gegenübergestellt. Einige Länder verzeichnen eine Zunahme der Sterblichkeit, bei anderen erkennt man eine teilweise sehr deutliche Verringerung.

Abb. 4.3 Realität in Afrika. Hier hat sich an der Müttersterblichkeit seit 1990 wenig geändert. Je nach Rechenmodell (UN/WHO) oder Hogan (IHME) finden sich unterschiedliche Werte mit starker Streuung. Unabhängig vom Modell ist ersichtlich, dass das Millenniumsziel Senkung der Müttersterblichkeit (MDG 5) nicht erreicht wird und seit 1990 auch kein wesentlicher Rückgang der Sterblichkeit zu beobachten ist (Kinney et al. 2010).

Die Ursachen für den Rückgang der Sterblichkeit (zwischen 1980 und 2008) sind einerseits Verbesserungen in der Versorgung, andererseits aber vor allem ein Rückgang der Geburtenrate (Fertility Rate, FRT). Diese lag 1980 bei 3,7 und sank 1990 auf 3,26 und 2008 auf 2,56. Zwischen FRT und MMR (Maternal Mortality Rate) gibt es eine enge direkte Beziehung: je geringer die FRT, desto geringer die MMR. Das relativiert allerdings auch den Rückgang; er ist also keinesfalls so ausgeprägt, wie es scheint. Auch die Verbesserung des Einkommens, besonders in Asien und Lateinamerika, trägt zu einem Rückgang der Zahlen bei, denn die bessere finanzielle Ausstattung ermöglicht es, eine bessere Ernährung zu wählen, aber auch gesundheitliche Versorgung in Anspruch zu nehmen.

Die Zahlen in Tab. 4.1 täuschen aber leider über das tatsächliche Ausmaß hinweg, da nur die Todesfälle erfasst werden, die entweder im Rahmen einer Betreuung erfolgten oder aber speziell gemeldet wurden. Es gibt nur wenige Untersuchungen, die gezielt dieser Frage nachgehen. So wurde beispielsweise in Studien in Indien festgestellt, dass nur ein Drittel aller Todesfälle innerhalb eines Distrikts gemeldet (Bhatia 1993) und in einem anderen Landesteil sogar nur 31 % der Todesfälle in Kliniken registriert wurden. 64 % wurden offensichtlich überhaupt nicht erfasst (Turmann et al. 1995).

Abb. 4.3 zeigt deutlich, dass das gesteckte Ziel bis 2015 selbst bei Zugrundelegung der optimistischen Einschätzung Illusion bleibt. Durch die Wirtschaftskrisen in 2008 und 2011 ist die Zahl der verstorbenen Mütter in einigen Ländern fast wieder auf das Ausgangsniveau von 1990 gestiegen. Zusammengenommen ist die Müttersterblichkeit in Subsahara-Afrika, wie der UNFPA (United Nations Population Fund) berichtet, seit 1990 zwar um 41 % gesunken, dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Müttersterblichkeit in Afrika immer noch die höchste weltweit ist. Impfungen, Verbesserung der hygienischen Bedingungen und weitere Verbreitung der Geburtsbegleitung sind für diesen Rückgang ganz wesentlich verantwortlich. Die chronische Mangelernährung besteht jedoch immer noch und ist die wichtigste Ursache für die weiterhin hohe Müttersterblichkeit.

Wie labil die Entwicklung ist, zeigt sich an den Ereignissen in Somalia, auf die durch UNICEF schon lange vor der Hungerkatastrophe hingewiesen wurde: Die Müttersterblichkeit liegt in Somalia bei 1044 pro 100 000, also deutlich über dem, was die Zahlen in Abb. 4.3 suggerieren. Damit ist Somalia eines der Länder mit der höchsten Müttersterblichkeit weltweit. Blutungen, lange und schwierige Geburten, Infektionen, Eklampsie (Auftreten von Ödemen, Kopfschmerzen und mehr oder weniger stark ausgeprägten Krämpfen) sind die häufigsten Ursachen. Anämie und Folgen der Beschneidung führen zu einer weiteren Verschärfung der Situation. Fehlende Geburtsvorbereitung oder Nachsorge durch Fachkräfte, verbunden mit fehlenden Möglichkeiten zur Behandlung von Notfällen, tun ihr Übriges. In Afrika leben 11 % der Weltbevölkerung, und es sterben 50 % aller Frauen und Kinder, die weltweit während oder kurze Zeit nach der Geburt ums Leben kommen. Fast 70 % der HIV-Toten und 90 % der weltweiten Malaria-Toten lebten auf diesem Kontinent.

Die Müttersterblichkeit ist in Ländern mit geringem Einkommen um mehr als das 100bis 500-fache höher als in wohlhabenden Ländern. Offensichtlich wird dies jedoch nicht wirklich wahrgenommen, sodass auch die Anstrengungen, die einzelne Länder unternehmen (z. B. Bangladesch) nicht als beispielhaft in die Öffentlichkeit kommuniziert werden. So lag dort im Jahr 2001 die MMR noch bei 320/100 000 Geburten, um dann bis zum Jahr 2010 um 40 % auf 190 zu sinken. Während 2001 noch 90 % aller Geburten zu Hause und ohne fachliche Begleitung stattfanden, liegt die Zahl der Hausgeburten heute bei zwar immer noch hohen 76 %, aber dennoch konnte hierdurch eine Verringerung der Mortalität erreicht werden. Dies war das Ergebnis entsprechender breit angelegter Aufklärungskampagnen (BMMS 2010).

In Indien dagegen ist die Sterblichkeit zwischen 2004 und 2009 lediglich von 254 auf 212/100 000 Geburten zurückgegangen. Und so zitiert die Times of India in ihrer Januar-Ausgabe 2012 den Generalsekretär der Indischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe Dr. P. K. Shah:

„Es ist eine Schande, dass Indien, eine der am schnellsten wirtschaftlich wachsenden Nationen, zu den fünf Ländern mit der höchsten maternalen Sterblichkeit gehört (250–300/100 000). Die Situation wird sich nicht verbessern, bevor dieser Zustand nicht mit gezielten Maßnahmen durch die Regierung bekämpft wird.“

 
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