Die institutionell-regulative Gestaltung des europäischen Finanzmarktkapitalismus

Obwohl die genannten Projekte als Antwort auf unterschiedliche Krisen und Herausforderungen lanciert worden waren, bezogen sie sich allesamt positiv auf den übergreifen-

den Diskurs einer verbesserten europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Dies galt auch für das Projekt der Finanzmarktintegration, das ebenfalls eine gestärkte Wettbewerbsfähigkeit durch mehr Konkurrenz und verringerte Kosten der Kapitalbeschaffung versprach. Genauer betrachtet, unterschied sich die Finanzmarktintegration von den vorangegangenen Projekten allerdings in dreifacher Hinsicht:

• Erstens korrespondierte die Finanzmarktintegration sehr eng mit einem strukturellen Wandel im kapitalistischen Reproduktionsmodus, der auch für vormals nicht-ökonomische Organisationsbereiche sehr weitreichende Implikationen mit sich brachte,

d. h. einen neuen Schub der Durchkapitalisierung oder „neuen Landnahme“ (vgl. Harvey 2003, S. 137–182; Dörre 2009), dessen unterschiedliche Facetten mittlerweile verstärkt unter dem Oberbegriff der „Finanzialisierung“ diskutiert werden (vgl. Heires und Nölke 2011; Lapavitsas 2011).

• Zweitens stellte die Finanzmarktintegration ein Projekt dar, das sich aus mehreren

Initiativen zusammensetzte, sich also über einen längeren Zeitraum erstreckte (vgl. Bieling 2003). Nachdem bereits durch das EG-Binnenmarkt-Programm die Liberalisierung des Finanzsektors eingeleitet worden war und auch die WWU die grenzüberschreitende Kapitalmobilität begünstigt hatte, wurde die Integration im Laufe der 1990er Jahre weiter forciert: erst durch die Förderung und Vernetzung der Risikokapitalmärkte, dann durch den 1998 verabschiedeten Aktionsplan für Finanzdienstleistungen und schließlich durch die Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000 und ein beschleunigtes Rechtssetzungsverfahren gemäß der Vorschläge der Expertengruppe unter der Leitung von Alexandre Lamfalussy.

• Im Kontext der genannten Initiativen wurde drittens schließlich auch der Wettbe-

werbsfähigkeits-Diskurs nochmals spezifisch akzentuiert; und zwar dahingehend, dass die zentrale Vermittlerrolle der Finanzmärkte wiederholt hervorgehoben wurde: so etwa wenn niedrigere Zinsen, ein verbesserter Zugriff auf Risikokapital und eine größere Verfügbarkeit von anlagesuchendem Kapital und zugleich steigende Renditen für Investment- und Pensionsfonds in Aussicht gestellt (CAG 1998, S. 1; ERT 2002, S. 7) und darüber hinaus eine Stärkung des Euro sowie ein erhöhter Druck zur Reform der Arbeits- und Sozialsysteme erwartet wurden.

Diese Perspektive eines – von vielen Verbänden und Experten des Finanzsektors, aber auch anderer Wirtschaftszweige unterstützten – Übergangs in eine neue, stärker transnational und finanzmarktpolitisch vernetzte Gesellschaftsformation wurde durch den Wettbewerbsfähigkeits-Diskurs, aber auch durch viele konkrete staatlich-zivilgesellschaftliche Beratungs- und Aushandlungsprozesse unverkennbar gefördert. Damit sich der Diskurs und die mit diesem verbundenen Beratungs- und Einlussformen jedoch verstetigen konnten, mussten auch die politisch-institutionellen und regulativen Organisationsformen, also Governance-Strukturen des europäischen Finanzmarktkapitalismus weiterentwickelt werden.

Grundlegend war das institutionelle europäische Gefüge, das sich keimförmig bereits in den 1970er und 1980er Jahren herausgebildet hatte und durch eine sektorale Organisationsstruktur geprägt war (vgl. Lannoo 2002). So war im Bankensektor schon 1977 das Banking Advisory Committee (BAC) gegründet worden. In diesem kamen leitende Repräsentanten der nationalen Bankenaufsicht, der Finanzministerien und der Zentralbankenzusammen, um sich über eine gemeinsame Position im Basler Ausschuss für Bankenaufsicht zu verständigen und sich im Rahmen des Komitologie-Verfahrens am regulativen Entscheidungsprozess der EG/EU zu beteiligen. Speziell für die Eurozone wurde ab 1998 zudem ein Banking Supervision Commitee (BSC) eingerichtet. Ähnlich stellte sich die Situation im Versicherungssektor dar, in dem allerdings erst im Jahr 1992 das Insurance Committee (IC) institutionalisiert worden war. Etwas früher wiederum, im Jahr 1985, wurde im Kapitalmarktsektor das High Level Securities Supervisors Committee (HLSSC) geschaffen, das aus Vertretern der Aufsichtsbehörden und Finanzministerien bestand. Im Unterschied zum BAC war das HLSSC nicht in das Komitologie-Verfahren eingebunden und verfügte demzufolge nur über schwache beratende Aufgaben. Dies änderte sich dann jedoch mit der Umsetzung der Vorschläge der Lamfalussy-Expertengruppe. Um die Integration der Finanzmärkte regulativ zu beschleunigen und supervisorisch zu unterstützen, wurden im Sommer 2001 zwei neue Ausschüsse eingesetzt: das European Securities Committee (ESC), das sich aus hochrangigen Fachleuten aus den nationalen Finanzministerien zusammensetzt und die Kommission im Komitologie-Verfahren, d. h. bei der Ausarbeitung von Verordnungen und Richtlinien unterstützt, sowie das Committee of European Securities Regulators (CESR), also der Ausschuss der nationalen Wertpapierregulierungsbzw. Aufsichtsbehörden, der das ESC und die Kommission berät und die Implementierung der europäischen Rechtssetzung überwacht.

Die Umsetzung der Lamfalussy-Vorschläge war in zweifacher Hinsicht sehr bedeutsam. Zum einen erlangten das ESC und CESR im Zusammenspiel mit der Europäischen Kommission – und indirekt auch mit den Unternehmen und Verbänden des Finanzsektors (vgl. Arlman 2002, S. 46) – recht umfassende Gestaltungsmöglichkeiten, indessen die Rolle des Europäischen Parlaments wie auch des Ministerrats im Rahmen eines vierstufigen Prozesses auf eine allgemeine Rahmengesetzgebung (1. Stufe) beschränkt wurde. Diese 1. Stufe wurde nämlich durch eine 2. Stufe ergänzt, auf der das ESC in Zusammenarbeit mit der Kommission detaillierte technische Durchführungsbestimmungen erlässt und dabei (3. Stufe) vom Ausschuss der Wertpapierregulierungsbzw. Aufsichtsbehörden (CESR) beraten wird. Die 4. Stufe des Gesetzgebungsverfahrens nach Lamfalussy besteht schließlich in einer möglichst einheitlichen und konsequenten Implementierung der regulativen Bestimmungen. Zum anderen ist diese Organisationsstruktur und das beschleunigte Gesetzgebungsverfahren ab 2005 auf den Bankensektor – hier wurde das BAC durch das European Banking Committee (EBC) abgelöst und durch das Committee of European Banking Supervisors (CEBS) ergänzt – und den Versicherungssektor –hier waren fortan das European Insurance and Occupational Pensions Committee (EIOPC) und das Committee of European Insurance and Occupational Pensions Supervisors (CEIOPS) zuständig – übertragen worden, so dass auch die Finanzmarktakteure im Banken- und Versicherungssektor durch Institutionen und Ausschüsse reguliert werden, die ihren Anliegen grundsätzlich sehr wohlgesonnen gegenüberstehen.

Um nicht missverstanden zu werden: Was die 2. und 3. Stufe des regulativen Prozesses betrifft, so ergaben sich die diskursiven Einlussmöglichkeiten der Interessengruppen des Finanzsektors nicht aus der unmittelbaren Einbeziehung in den Gesetzgebungsprozess, sondern allgemeiner aus dessen Entpolitisierung und expertokratischen Verselbstständigung. Diese prozedurale Verselbstständigung bildet aber nur die eine Seite der Medaille. Denn in Ergänzung zur 2. und 3. Stufe wurden mit Blick auf die 1. Stufe einige Beratungsforen geschaffen, zu denen die Organisationen des Finanzsektors einen sehr guten Zugang hatten oder unmittelbar in ihnen repräsentiert waren. Um nur einige Beispiele zu nennen (vgl. Bouwen 2002, S. 129)3: die Financial Services Policy Group (FSPG), die 1998 eingerichtet wurde, um die politischen Prioritäten im Prozess der Finanzmarktintegration zu identifizieren; die 1999 institutionalisierten „Forum Groups“, die die Europäische Kommission über bestehende Mängel und praktische Hindernisse der Finanzmarktintegration informierten; das European Parliamentary Financial Services Forum (EPFSF), das im Mai 2000 gegründet wurde und sich aus Experten – jeweils zur Hälfte etwa Verbände und Einzelunternehmen – zusammensetzt, die das EU Parlament in Fragen grenzüberschreitender Finanzdienstleistungen unterrichten; oder die European Securities Markets Expert Group (ESME), die 2006 eingesetzt wurde, um die Kommission bei der rechtlichen und wirtschaftlichen Implementierung der EU-Wertpapierrichtlinien zu beraten.

All diese Prozesse verdeutlichen, dass seit den 1990er Jahren die gesteigerte Definitions- und Gestaltungsmacht transnationaler Interessengruppen strukturell durch die globale Liberalisierung und die Dynamik der Kapitalmärkte bedingt war, sich operativ darüber hinaus jedoch ebenso auf ein aufnahmefähiges und aufnahmebereites europäisches Institutionengefüge stützte. Die institutionelle und regulative Einfassung der Finanzmarktpolitik war zwischen den Unternehmen und Verbänden der unterschiedlichen Sektoren wie auch zwischen den nationalen Regierungen zum Teil politisch umkämpft (vgl. Story und Walter 1997; Lütz 2002; Quaglia 2010). Gleichzeitig begünstigten die europäischen Interaktionsmuster – vor dem Hintergrund steigender finanzieller Vermögensbestände und attraktiver Anlageoptionen (vgl. Roxburgh et al. 2011) – ihrerseits aber auch die Genese einer transnationalen Diskurskoalition. Im Zusammenspiel von Europäischer Kommission und Expertenkomitees, beratenden Ausschüssen, Verbänden, Wissenschaftlern, Experten und Consultants entstanden konsensgestützte Formen des europäischen Netzwerkregierens, die sich innerhalb der unterschiedlichen Regulierungsbereiche des Finanzsektors – interaktiv und kommunikativ – jeweils spezifisch darstellten. Übergreifend präferierten die Netzwerkakteure die finanzmarktpolitische Agenda eines „regulatory liberalism“, dessen Prioritäten seit den 1990er Jahren zunehmend dogmatisch definiert wurden (vgl. Mügge 2011) und sich bis zum Ausbruch der sog. Weltfinanzkrise reproduzierten.

 
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