Neue Akteure in der deutschen Migrationspolitik: Der SVR und die HKG

Die Gründung des SVR und der HKG durch mehrere deutsche Stiftungen geht auf die Initiative der Stiftung Mercator zurück. Federführend bei der Etablierung der beiden Gremien waren sie sowie die VolkswagenStiftung. Ihr Engagement fand vor dem Hintergrund eines generellen Anstiegs politikberatender Aktivitäten durch Stiftungen statt (Welzel 2006, S. 275). Als Grund führt Welzel (2006) – den weiter oben skizzierten Befunden der Governance-Forschung entsprechend – veränderte politische Rahmenbedingungen an:

„Die traditionelle Form der wissenschaftlichen Politikberatung (…) bedient nur noch in eingeschränktem Maße die Bedürfnisse des politischen Prozesses. (…) Stiftungen entdecken sich zunehmend als politikberatende Akteure selbst und bauen (…) ihre Wirkungssphäre stetig aus“ (Welzel 2006, S. 275, 281). Vor diesem Hintergrund kann die Stiftung Mercator als Protagonistin eines neuen Typs von Stiftung gelten, der sich als „Themenanwalt“ versteht und zu dessen Selbstverständnis es gehört, aktiv in den politischen Prozess einzugreifen. „Ein Ziel der Stiftung ist es, gesellschaftspolitische Veränderungen zu erreichen. (…). Warum sollen daher nicht auch Stiftungen, wie NGOs, ein Player im Spiel sein, mit allen Methoden, die man nutzt, um politisch etwas zu bewirken? Dabei machen wir aber keine Politik, sondern wir machen Vorschläge an die Politik, an die politischen Entscheider“ (SMe). Auch in anderen Politikbereichen wie Klimawandel und kulturelle Bildung setzt die Stiftung Mercator ähnliche Instrumente wie den SVR und die HKG ein.

Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR)

Neben der kritischen Politikbegleitung über die Öffentlichkeit steht der SVR auch für direkte Beratung zur Verfügung – sofern Politik und Behörden beraten sein wollen und nicht qua Amt alles besser zu wissen glauben. (Bade 2012, S. 49)

Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration wurde 2008 gegründet. Träger ist eine GmbH. Er besteht aus neun Professoren und Professorinnen, die von einer internationalen Findungskommission berufen werden, sowie einer Geschäftsstelle. Als seine Hauptaufgaben sieht der SVR „Bestandsaufnahmen, Entwicklungsanalysen, kritische Politikbegleitung und die Information der Öffentlichkeit in den Bereichen Integration und Migration“. Es geht darum, kritisch zu beobachten, neutral und methodensicher zu bewerten und handlungsorientiert zu beraten. (svr-migration).

Motive für die Gründung, Form und Instrumente. Hauptmotiv für die Gründung des SVR war die Wahrnehmung der Stiftungen, dass in einem wichtigen Politikfeld ein Expertengremium fehle, das außerhalb der ministeriellen und parteipolitischen Strukturen Politikberatung betreiben könne (SVR). Dabei spielten auch negative Erfahrungen mit der bisherigen, staatlich mandatierten Gremien in der Migrationspolitik eine Rolle:

„Die Unabhängige Kommission Zuwanderung und der Zuwanderungsrat waren nur dem Schein nach unabhängig. Sie konnten zwar schreiben, was sie wollten, sich in die politische Diskussion einzumischen oder gar an der Regierung Kritik zu üben, das war unerwünscht. Der Bundesinnenminister Otto Schily hat sich das auch einmal ausdrücklich verbeten. Die Erfahrungen mit diesen beiden Gremien haben mich gelehrt, dass es gar keinen Sinn hat, sich als Politikberater abhängig zu machen vom Staat oder von der Politik“ (Bade).

Mit der Bezeichnung „Sachverständigenrat“ erhielt das Gremium den gleichen Namen wie die bedeutendsten – staatlich mandatierten – Beratungsgremien der Bundesregierung. Die Einrichtung eines Sachverständigenrats basiert normalerweise auf Gesetzen oder ministeriellen Erlassen (Weingart und Lentsch 2008, S. 103). „Das Modell des (…) Sachverständigenrat (…) steht paradigmatisch für ein unabhängiges wissenschaftliches Beratungsgremium auf Bundesebene“ (Weingart und Lentsch 2008, S. 97. Hervorhebung im Original). Zu den Merkmalen von Sachverständigenräten gehören u. a. (…) „die Berufung der Mitglieder durch die Regierung, (…), die multiple Adressierung von Bundesregierung, politisch verantwortlichen Instanzen und Öffentlichkeit, die (zum Teil informelle) Reaktionsplicht der Bundesregierung und die Beratungsleistung in Form regelmäßiger Gutachten als Hauptinstrument“ (Weingart und Lentsch 2008, S. 98). Dabeigilt etwa der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der in der Öffentlichkeit als „Rat der fünf Wirtschaftsweisen“ bekannt ist, als eines der zentralen Instrumente staatlicher Politikberatung und als ein Gremium, das „erheblichen Einluss auf die wirtschaftspolitische Ausrichtung der Regierungspolitik hatte“ (Lösch 2007, S. 35). Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen gilt als „wichtigstes wissenschaftliches Beratungsgremium der Bundesregierung in der Gesundheitspolitik“ (Weingart und Lentsch 2008, S. 97).

Vor diesem Hintergrund ist der Name des SVR „(…) gewählt worden, um die Ähnlichkeit des Auftrags zu bestehenden Gremien der Bundesregierung deutlich zu machen. Er ist sozusagen eine ‚Mogelpackung', aber mit der Kennzeichnung ‚deutscher Stiftungen' wird natürlich deutlich, dass er aus der Bürgergesellschaft kommt“ (SVR). „'Sachverständigenrat' war ein Titel, der eingeführt wurde, weil ihn eine gewisse Aura umgibt, die Würde signalisiert. Außerdem war das ein Begriff, mit dem Politik und Medien schon umgingen“ (Bade). Dabei hat sich die Strategie, sich durch den Namen in die offizielle Beratungsgremien der Bundesregierung einzureihen, insofern als erfolgreich erwiesen, als in überregionalen Medien häufig der Namensteil „deutscher Stiftungen“ weggelassen wird und die private Initiative so als ein Regierungsgremium erscheint (Welt online 2011; Reimann 2011).

Der SVR hat auch Kernelemente der Tätigkeit der staatlich mandatierten Sachverständigenräte übernommen. So legt das Gremium genau wie die fünf Wirtschaftsweisen jährlich ein Jahresgutachten vor. Auch hinsichtlich der Organisationsstruktur gibt es Parallelen. Wie die von der Regierung eingerichteten Sachverständigenräte verfügt der SVR über eine Geschäftsstelle mit einem wissenschaftlichen Mitarbeiterstab.

Aktivitäten. Die beiden Haupthandlungsfelder des SVR sind der direkte Kontakt mit Entscheidungsträgern sowie die Öffentlichkeitsarbeit. „Von der Herangehensweise sind uns zwei Ebenen sehr wichtig, die funktionieren wie zwei ‚Greifer einer Zange'. Erstens der direkte Austausch mit Politik und Verwaltung, wo man versucht windows of opportunity wahrzunehmen. Die gibt es ganz klar, z. B. immer in dem Moment, wenn es eine neue Bundesregierung gibt, wenn Koalitionsverträge geschrieben werden, oder bei Wahlprogrammen, oder in dem Moment, wenn Personen ein neues Amt übernehmen (…). Da gibt es ein großes Interesse an Beratung, das auch damit zu tun hat, dass man sich gerne weitere Meinungen einholt, die nicht aus der eigenen interministeriellen Bürokratie kommen“ (SVR).

Zu den Aktivitäten des SVR gehören regelmäßige Gespräche und der Informationsaustausch mit Politikern, Ministerialbeamten und Staatssekretären. Der SVR plegt u. a. Kontakte zum BMI, dem BMAS und dem Wirtschaftsministerium. Dabei steht der inhaltliche Austausch außerhalb der formalen Konsultationsprozesse im Rahmen von Gesetzgebungsverfahren im Vordergrund: „In vielen Fällen werden Kontakte außerhalb des Gesetzgebungsprozesses von uns sogar präferiert, weil wir lieber dafür sorgen wollen, dass Verständnis für ein Thema aufgebaut wird, oder dass ein Thema als immer relevanter angesehen wird, oder dass Möglichkeiten beleuchtet werden, ein Thema anzugehen oder nicht anzugehen“ (SVR).

Der zweite wesentliche Arbeitsbereich des SVR ist die Öffentlichkeitsarbeit. Dabei steht das Konzept der kritischen Politikbegleitung im Mittelpunkt der Aktivitäten: „Wirglauben, dass Themen nur dann politisch auch Erfolg haben, wenn auch ein entsprechender medialer Handlungsdruck mit aufgebaut wird“ (SVR). „Mein Konzept der ‚kritischen Politikbegleitung' funktionierte völlig anders als klassische Politikberatung. Die kritische Politikbegleitung geht über die Medien und hat schon etwas von pressure: Politik erfährt erst aus den Medien, was ein wissenschaftliches Gremium von ihr hält“ (Bade).

Dabei arbeitet der SVR mit den klassischen Instrumenten der Pressearbeit wie Pressemitteilungen, Pressekonferenzen und Hintergrundgesprächen. Hierbei wird durchaus mit einem konfrontativen Diskurs gearbeitet, der die Rezeption des SVR in den Medien fördert: „Thilo Sarrazin hat in Deutschland verheerende Spuren hinterlassen. Zu diesem Urteil kommen die Wissenschaftler des Sachverständigenrats Integration und Migration (SVR) bei der Vorstellung ihres Jahresgutachtens 2011. (…). Das Ergebnis ihres neuen Berichts ist eine Ohrfeige für die Politik (…) Deutschland brauche ein komplett neues Steuerungssystem für Zuwanderung“ (Reimann 2011). „Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) übt scharfe Kritik an der deutschen Integrationspolitik. (…) Klaus J. Bade, der Vorsitzende (…) kritisierte gegenüber dem SPIEGEL insbesondere einen Bericht der Bundesregierung (…): ‚Dieser Bericht ist eine Kriegserklärung an die Realität'“ (Gezer 2012).

Dabei wird die Arbeit des SVR seitens befragter Journalisten als positiv und professionell eingeschätzt: „Der Sachverständigenrat hilft mit seiner Kompetenz unserer Berichterstattung als Journalisten. Seine Gutachten nutzen mir, sie liefern meist eine Menge relevanter Daten und Einschätzungen“ (TS). „Man spricht immer mal wieder miteinander, der SVR schickt einem die Gutachten auch schon zum Teil vorab, damit man Zeit hat, sich sie anzusehen, es gibt Zusammenfassungen, es ist also eine relativ gute und professionelle Pressearbeit“ (SZ).

Dem SVR wird aufgrund seiner wissenschaftlichen Besetzung Objektivität, Sachlichkeit und Expertise zugeschrieben: „Ich bilde mir ein, auch Gutachten und Einschätzungen des SVR kritisch zu lesen. Ich verlasse mich dabei aber von vornherein darauf, dass er sehr weitgehend unabhängig ist. Das hat mit dem Renommee seiner Leute zu tun, aber viel mehr noch mit Strukturen und Organisation. Ich bekomme es bei der Arbeit auch immer einmal wieder mit hochangesehenen Fachleuten zu tun, die, wenn sie im Regierungsauftrag oder für Unternehmen arbeiten, auffallend oft zu den Ergebnissen kommen, die den Auftraggebern passen. Diese Wissenschaft auf Bestellung sehe ich im Falle des SVR nicht“ (TS). Dabei wird der SVR als eine Quelle für „Fakten“ betrachtet und als neutraler Akteur wahrgenommen: „An Politikern verblüfft mich immer wieder ihre Fähigkeit, die Realität zu ignorieren (…). Hier mal ein paar Fakten: Der Sachverständigenrat hat in seinem Jahresgutachten 2011 in harten Zahlen dargelegt, dass in den letzten 15 Jahren mehr Menschen Deutschland verlassen haben, als eingewandert sind (…)“ (Mysorekar 2011).

 
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