Vorstellungen können Einfluss auf Handlungen nehmen
Auch wenn bis dato empirisch nicht geklärt ist, wie genau der Zusammenhang zwischen Vorstellungen und Handlungen zu beschreiben ist, hat die bisherige Forschung gezeigt, dass Lehrerhandeln von Vorstellungen beeinflusst wird (vgl. Mansour 2009, S. 31). Verschiedene Studien geben außerdem Hinweise darauf, dass Lehrervorstellungen und -handlungen bei erfahrenen Lehrpersonen eher kongruent sind als bei unerfahrenen Lehrpersonen (vgl. Kleickmann et al. 2010, S. 215f.).
• In der COACTIV-Studie konnte in einer repräsentativen Längsschnittstudie gezeigt werden, dass die domänenspezifischen Lehr-Lern-Vorstellungen und epistemologischen Vorstellungen von Mathematiklehrpersonen Einfluss auf die Instruktionspraxis und Einfluss auf die Lernergebnisse ihrer Schülerinnen und Schüler nehmen (vgl. Voss et. al 2013, S. 263).
• In einer ebenfalls quantitativen Studie zu den Vorstellungen von Lehrpersonen über Funktionen von Vergleichsarbeiten (VERA [1]) zeigte die Analyse von Richter et al. (2014b, S. 225), dass Lehrpersonen, die die Vergleichsarbeiten als Instrument ihrer Unterrrichtsentwicklung ansahen, ihren Unterricht stärker differenzierten und auf Kompetenzerwerb ausrichteten. Die Studie zeigte außerdem, dass die Schülerinnen und Schüler von Lehrpersonen mit solchen Vorstellungen bessere Ergebnisse in Mathematik und Lesen erzielten (vgl. ebd.).
• Hinweise auf den Zusammenhang zwischen beliefs und Handlungen finden sich auch in der TALIS-Studie (2009), in der bei der Erhebung allgemeiner Lehrervorstellungen signifikante Korrelationen zwischen Vorstellungen und Unterrichtspraxis über die Ländergrenzen hinweg belegt werden konnten (vgl. OECD 2009, S. 118).
• Einige wenige, zumeist qualitative Studien, wie beispielsweise die von Eley (2006) zu den Vorstellungen von Hochschullehrpersonen und deren Entscheidungen in der Unterrichtsvorbereitung zeigten hingegen keine Konsistenz zwischen den Vorstellungen der Lehrpersonen und ihren Entscheidungen.
Vorstellungen wird vor dem Hintergrund der bisherigen Forschungsergebnisse, die überwiegend einen Zusammenhang zwischen Vorstellungen und Handlungen zeigen, „[...] ein zentraler Einfluss auf den Bewertungsmaßstab im Zusammenhang mit professionellem Handeln“ und der „Steuerung beruflichen Handelns“ zugesprochen (Oser/Blömeke 2012, S. 416; vgl. u. a. auch Hartinger et al. 2006).
Wie genau der Zusammenhang zwischen Vorstellungen und Handlungen zu beschreiben ist und welche Faktoren Einfluss darauf nehmen, wann Vorstellungen handlungsleitend sind und wann nicht und wie genau sich dieser Zusammenhang für die verschiedenen Domänen darstellt, lässt sich noch als Forschungsdesiderat bezeichnen.
Feststellen lässt sich jedoch bereits, dass das Verhältnis von Vorstellungen und Handlungen komplex ist und eher als „dialektisch“ denn als „unilateral“ zu beschreiben ist (vgl. Mansour 2009, S. 31). Darüber hinaus gibt es verschiedene Hinweise darauf, dass Vorstellungen auch als „kontext-abhängig“ (ebd., S. 32) bezeichnet werden können und dies ihren möglichen Einfluss auf Handlungen bestimmen kann. So können beispielsweise soziale und institutionelle Faktoren Einfluss auf Vorstellungen nehmen (vgl. ebd., S. 32), weshalb es wichtig ist, diese bei der Erhebung von Lehrervorstellungen zu berücksichtigen (vgl. Kapitel 2.2).
Die Unterscheidung von Leuchter et al. (2006, S. 565; Leuchter 2009, S. 9) in handlungsnahe und handlungsferne Vorstellungen bringt zum Ausdruck, dass Vorstellungen unterschiedlich handlungsrelevant sein können. Auch in der TALIS-Studie der OECD (2009) wird zwischen „abstract and concrete beliefs“ (OECD 2009, S. 118) unterschieden, um deutlich zu machen, dass Vorstellungen handlungsleitend sein können, aber nicht immer sein müssen.
Außerdem können Vorstellungen und aus ihnen resultierende Handlungen Einfluss auf die Vorstellungen und Handlungen anderer nehmen. Ein Beispiel hierfür sind lerntheoretische Vorstellungen von Lehrpersonen, die über die Gestaltung des Unterrichts die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler beeinflussen (vgl. Kunter/Pohlmann 2009, S. 279).
Nach Kleickmann et al. (2010, 214f.) lassen sich auf der Basis theoretischer Überlegungen drei Begründungslinien benennen, die für die „Kongruenz“ von Lehrervorstellungen und -handlungen sprechen:
a) die Bedeutung von Lehrervorstellungen für die Unterrichtsvorbereitung („pre-active“) und die Unterrichtsdurchführung („inter-active teaching“),
b) die Bedeutung von Vorstellungen für die Wahrnehmung von Unterrichtssituationen durch Lehrpersonen sowie
c) die Komplexität und nicht lineare Strukturierung von Unterrichtssituationen, in denen Vorstellungen neben anderen Kognitionen eine entscheidende Rolle zukommt.
Gleichzeitig werden auch Gründe für eine mögliche „Inkongruenz“ zwischen Lehrervorstellungen und -handeln, wie zeitliche und curriculare Rahmenvorgaben, fehlendes professionelles Wissen oder andere situative Gegebenheiten, benannt (vgl. ebd., S. 215). In Lehrervorstellungsstudien wird jedoch mehrheitlich davon ausgegangen, dass die eigenen Vorstellungen Einfluss auf das Handeln – in diesem Fall von Lehrpersonen – nehmen können (vgl. u. a. Leder et al. 2002; Leuchter 2009).
Nach gegenwärtigem Stand der Forschung ist die Frage, inwieweit Vorstellungen Einfluss auf Handlungen nehmen, aufgrund divergierender Vorstellungsdefinitionen und gleichzeitig weniger und zum Teil gegenläufiger empirischer Ergebnisse nicht eindeutig zu beantworten (vgl. u. a. Aguirre/Speer 2000, S. 328f.; Kleickmann et al. 2010, S. 215; Leuchter 2009, S. 27f.; Voss et al. 2013, S. 255).
Mansour (2009, S. 31) fasst dies prägnant zusammen: „There is still much debate as to whether beliefs influence actions or actions influence beliefs.” Hinzu kommt, dass Studien aufgrund einer nicht einheitlichen Konzeptualisierung von beliefs bzw. einer Ausdifferenzierung des Konstrukts in viele verschiedene beliefs (epistemologische Überzeugungen, Vorstellungen zum Lehren und Lernen allgemein oder in spezifischen Fächern, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen etc.) vielfach nicht direkt miteinander vergleichbar sind (vgl. Voss et al. 2013, S. 255).
- [1] VERA: Vergleicharbeiten in der Schule