Status quo und Studien in der Lehrervorstellungsforschung
Forschung zu Lehrerkognitionen im Rahmen von Unterrichtsund LehrLern-Forschung gibt es im angelsächsischen Raum vereinzelt schon seit den 1960er-Jahren (vgl. Dann 2008, S. 177). Mittlerweile ist auch in Deutschland ein zunehmendes wissenschaftliches Interesse an Lehrpersonen insgesamt und an deren Vorstellungen zu beobachten. Die Erforschung von teachers' beliefs ist zum einen in psychologischen Domänen wie der kognitiven und der pädagogischen Psychologie und zum anderen in der Didaktik, beispielsweise der fachdidaktischen Forschung, und der allgemeinen Lehrerforschung verankert. Es handelt sich demnach um ein fächerübergreifendes Interesse, welches domänenspezifisch, beispielsweise fachdidaktisch in Bezug auf einzelne Schulfächer, konkretisiert wird.
Calderhead (1996) erläuterte die Gründe für ein gesteigertes Interesse an den Vorstellungen von Lehrpersonen für die USA anhand dreier Faktoren. Diese werden, weil sie gleichermaßen für die deutsche Lehrervorstellungsforschung gelten können, im Folgenden erläutert.
• Das zunehmende Interesse an den Vorstellungen von Lehrpersonen begründet sich auf die Ablösung des behavioristischen Paradigmas, welches den engen Fokus auf Lehr-Lern-Prozesse revolutioniert. Das verstärkte Interesse an Vorstellungen innerhalb pädagogischer, psychologischer und didaktischer Disziplinen kann auch als eine Konsequenz aus der konstruktivistischen Lehr-Lern-Theorie betrachtet werden, denn Vorstellungen sind Ausdruck eines subjektiven Weltund LehrLernverständnisses.
• Als weiterer Grund lässt sich die sogenannte „kognitive Wende“ anführen, die das Interesse an mentalen Konstrukten insgesamt und auch in der Lehrerausbildung und Professionsforschung befördert. Diese wird neben dem Aufkommen der „cognitive science“ auch als eine der wesentlichen Ursachen für die gewachsene Aufmerksamkeit auf Lehrerkognitionen angesehen (vgl auch Dann 2008, S. 177). Sie geht mit einem insgesamt gesteigerten Interesse an den mentalen Prozessen von Lehrenden und Lernenden einher (vgl. auch Richardson 2003, S. 1).
• Als dritte Ursache ist der Bedeutungswandel zu sehen, der Lehrpersonen allgemein als zentraler Instanz in Lernprozessen zugemessen wird. Dies ist auch ein entscheidender Grund für das gesteigerte Interesse deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Lehrervorstellungen. Dies betont auch Fischler (2001b, S. 105).
Lehrer gehören in diesem Verständnis zum unmittelbaren Kontext des Lernens, und die Kenntnis der die Instruktionsqualität entscheidend prägenden Kompetenzen und Ansichten der Lehrer kann zu einem besseren Verständnis der Lehr-Lern-Prozesse und schließlich der aus ihnen resultierenden Lernleistungen führen.
Lehrerhandeln ist nach Fischler nur dann veränderbar, wenn die bereits vorhandenen Vorstellungen und Ansichten von Lehrpersonen bekannt sind und Veränderungsmaßnahmen an diese anknüpfen bzw. diese berücksichtigen (ebd., S. 105). Conceptual change [1] initiieren zu können, setzt jedoch voraus, dass Vorstellungen von Lehrpersonen in einem ersten Schritt erhoben und analysiert werden.
In der pädagogischen Psychologie standen Lehrpersonen in der Vergangenheit nicht im Fokus der Aktivitäten, demnach auch nicht ihre Vorstellungen (vgl. Kunter/Pohlmann 2009, S. 262). Dies ist bemerkenswert, da verschiedene Studien die Bedeutung von Überzeugungen für das Lehrerhandeln nachgewiesen haben (vgl. ebd., S. 268). Zu nennen wären an dieser Stelle beispielsweise die pädagogisch-psychologische Forschung zu Selbstwirksamkeitsüberzeugungen (vgl. u. a. Klassen et al. 2008; Tschannen-Moran/Woolfolk Hoy 2001) oder Erwartungen von Lehrpersonen (vgl. u. a. Jussim/Harber 2005).
In der Fachdidaktik ist die naturwissenschaftliche Domäne in der Erhebung von Vorstellungen von Lehrenden (und Lernenden) die mit der längsten wissenschaftlichen Tradition. Hierzu zählen vor allem die Erhebungen von Vorstellungen in den mathematischen Studien TIMSS III (vgl. Baumert et al. 2000), COACTIV (vgl. Kunter et al. 2011) und TALIS (vgl. OECD 2009), die auch in der Bundesrepublik die fachdidaktische Aufmerksamkeit auf den Bereich der Vorstellungen richteten. Darüber hinaus ist das DFG-Programm „Bildungsqualität von Schule“ (BiQua) (vgl. Prenzel/Allolio-Näcke 2006) zu nennen, in dem ebenfalls die Vorstellungen von Lehrpersonen als Bestandteil der professionellen Lehrerkompetenz definiert wurden. Festzuhalten ist, dass Mathematiklehrpersonen bis dato vor allem aufgrund dieser groß angelegten Projekte als am ehesten beforscht gelten können und dass in anderen Fachdidaktiken bisher weniger wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse vorliegen.
In den sozialwissenschaftlichen Fachdidaktiken werden Lehrervorstellungen bedeutend später entdeckt, wobei Studien in den social sciences bzw. social studies, vor allem zum Bereich der civic education, in den USA vereinzelt etwa seit 1980 zu finden sind (vgl. Cantu 2001, S. 5 ff.). Zu beachten ist an dieser Stelle, dass die amerikanische Bezeichnung social science bzw. social studies verschiedenste sozialwissenschaftliche Fächer und Fächerkombinationen umfasst (vgl. Hicks et al. 2012, S. 283). Deshalb besteht nur eine eingeschränkte direkte Übertragbarkeit zu den deutschen Fachdidaktiken der einzelnen sozialwissenschaftlichen Fächer, bzw. diese Übertragbarkeit ist im Einzelfall zu überprüfen. Gleichwohl sind diese Studien aufgrund der inhatlichen Nähe und aufgrund der Tatsache, dass für den Bereich der economic education kaum und für die ökonomische Bildung keine Lehrervorstellungsstudien vorliegen, besonders relevant (vgl. Kapitel 4.7).
Auf Basis einer breit angelegten Recherche konnten 45 Studien zu Lehrervorstellungen ermittelt und kriteriengeleitet analysiert werden. Die Mehrheit dieser Studien zu Lehrervorstellungen stammt aus den naturwissenschaftlichen Didaktiken [2] und der Mathematikdidaktik [3]. Vor allem in den letzten Jahren erscheinen aber auch vermehrt Studien in anderen Domänen, sodass ebenfalls Studien aus der Sprachdidaktik [4] und den sozialwissenschaftlichen Didaktiken [5] einbezogen werden konnten. Ihr Anteil an den Lehrervorstellungsstudien ist im Vergleich zur Mathematik und den Naturwissenschaften jedoch nach wie vor gering. Da es sich bei der vorliegenden Studie um eine sozialwissenschaftliche Lehrervorstellungsstudie handelt, wurde insbesondere nach sozialwissenschaftlichen Studien gesucht. Die Samples dieser Studien umfassen Lehramtsstudierende, angehende Lehrpersonen, Grundschullehrpersonen, Sek-Iund Sek-II-Lehrerinnen und -Lehrer sowie Hochschullehrpersonen. Es werden sowohl qualitative als auch quantitative Methoden eingesetzt. Die Studien stammen aus unterschiedlichen Ländern wie u. a. USA, Australien, Ägypten, den Niederlanden, Deutschland, Schweiz, Litauen, Portugal oder Indien. Mittlerweile liegen auch erste internationale Vergleichsstudien im Feld der teachers' beliefs vor (vgl. u. a. Chin/Barber 2010). Die Studien wurden im Hinblick auf das vorliegende Vorhaben, die Ansätze und das jeweilige Untersuchungsdesign, insbesondere die Erhebungsmethoden und das Sampling, analysiert. Das Ergebnis dieser Analyse sind vier verschiedene Arten von Lehrervorstellungsstudien, die nach dem jeweiligen Forschungsinteresse unterschieden werden können. Abbildung 11 zeigt die Systematisierung der Studien zu Lehrervorstellungen nach ihrem jeweiligen Forschungsinteresse.
Abbildung 11 Systematisierung Lehrervorstellungsstudien
Zu (1) Studien, die explorativ im Sinne einer ersten Bestandsaufnahme allgemeine oder fachspezifische Vorstellungen und Konzepte von Lehrpersonen erheben.
Bei diesen Studien handelt es sich um grundlegende Arbeiten, die teilweise den Forschungsbereich „Lehrervorstellungen“ in den jeweiligen Disziplinen explorativ erschließen, wobei domänenspezifische, meist fachdidaktische und allgemein pädagogische oder didaktische und psychologische Studien zu unterscheiden sind. Vermehrt seit den Neunzigerjahren entstanden solche Studien vor allem in den Naturwissenschaftsdidaktiken (vgl. u. a. Aguirre et al. 1990; Freire/de Sanches 1992; Koballa et al. 2000; Pahl 2012). Im sozialwissenschaftlichen Bereich wurden solche Studien im englischsprachigen Raum mit einiger Verzögerung veröffentlicht, wenn auch weniger zahlreich (vgl. u. a. Adler 1984; Anderson et al. 1997; Dunkin et al. 1998; Vanfossen 2000). Gleiches gilt für die Sprachbzw. Fremdsprachendidaktiken (vgl. u. a. Kuzborska 2011). Auf dieser explorativen Ebene gibt es auch deutschsprachige Erhebungen zu Lehrervorstellungen in den Sozialwissenschaften, genauer zu Vorstellungen von Politiklehrerinnen und -lehrern (vgl. u. a. Allenspach 2012; Klee 2008; Weißeno et al. 2013). Sie sind jedoch noch jüngeren Datums und (noch) eher selten (vgl. Kapitel 4.7). Typisch für diese eher explorativen Arbeiten ist die Identifikation von Vorstellungskonzepten (vgl. u. a. Aguirre et al. 1990; Koballa et al. 2000) bzw. Perspektiven (vgl. u. a. Anderson et al. 1997). Auf dieser explorativen Ebene werden Lehrervorstellungen vorrangig qualitativ mithilfe von Interviews erhoben und die Anzahl der untersuchten Lehrpersonen hat einen kleinen (sechs bzw. sieben Lehrpersonen bei Klee 2008 und Heilman 2001) bis mittleren Umfang (acht bis neunzehn Lehrpersonen bei Allenspach 2012; Freire/de Sanches 1992; Koballa et al. 2000; Pahl 2012 und Vanfossen 2000). Dieser Gruppe von Studien ist auch die vorliegende Studie, aufgrund ihres explorativen Charakters für die ökonomische Bildung, zuzuordnen.
Zu (2) Studien, die die Zusammenhänge zwischen den Vorstellungen von Lehrpersonen und der classroom performance untersuchen.
Bei diesen Studien handelt es sich, mit einigen wenigen Ausnahmen (vgl. u. a. Cantu 2001), um Studien zu Mathematikund Naturwissenschaftslehrpersonen. Ein Ergebnis dieser Studien ist u. a., dass Vorstellungen nicht linear in Handlungen übersetzt werden, Lehrervorstellungen also nicht immer unmittelbaren Handlungsbezug aufweisen (vgl. u. a. Leuchter et al. 2006; Lederman 1999; Simmons et al. 1999). Auch die Unterscheidung zwischen verhaltensnahen und verhaltensfernen Vorstellungen geht maßgeblich auf diese Arbeiten zurück. Andere Studien, wie beispielsweise die von Cantu (2001) zu den Vorstellungen von social science teachers und Mansours Studie (2013) zu den Vorstellungen von science teachers, belegen einen Zusammenhang zwischen den Vorstellungen von Lehrpersonen und der classroom performance (vgl. Cantu 2001, S. 146; Mansour 2013, S. 1263). Die Ergebnisse von Mansour (2013, S. 1263) zeigen, dass Übereinstimmung und Inkonsistenzen gleichzeitig auftreten können bzw. dass Vorstellungen und Handlungen in einem komplexen Verhältnis stehen und sich auch innerhalb von Studien sowohl Übereinstimmung als auch Nichtübereinstimmung von Lehrervorstellungen und -handlungen beobachten lassen. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass die Frage, inwieweit Vorstellungen und Handlungen von Lehrpersonen übereinstimmen, bisher nicht eindeutig zu beantworten ist bzw. bisher ein nicht linearer und komplexer, jedoch ein Zusammenhang zu konstatieren ist. Den Forschungsfragen entsprechend liegt diesen Studien zumeist ein mixed methods-Ansatz zugrunde (vgl. u. a. Bryan 2003; Cantu 2001; Hoffman 2003; Mansour 2013), da sowohl Vorstellungen als auch Unterricht erhoben und analysiert werden, um Zusammenhänge zwischen diesen zu ermitteln. Vor allem in jüngeren Studien wird hierzu auch Videografie eingesetzt (vgl. u. a. Kuzborska 2011; Leuchter et al. 2006).
Zu (3) Studien, die den Einfluss von Maßnahmen auf die Vorstellungen von Lehrpersonen untersuchen (conceptual change).
Diese Studien beschäftigen sich in Analogie zum conceptual change im Bereich der Schülervorstellungen (vgl. u. a. Krüger/Vogt 2007) mit der Frage, inwieweit die Vorstellungen von Lehrpersonen durch Maßnahmen wie Seminare oder Fortbildungen verändert werden können. Auch bei diesen Studien handelt es sich zum Großteil um wissenschaftliche Projekte aus dem Bereich Mathematik und Naturwissenschaften, da die Frage der Veränderung von bestehenden Vorstellungen einen gewissen Forschungsstand in der Erhebung und in den Erkenntnissen zu spezifischen Vorstellungen innerhalb der jeweiligen Domäne voraussetzt.
Zu (4) Studien, die die Zusammenhänge zwischen den Vorstellungen von Lehrpersonen und anderen Variablen untersuchen.
Die in dieser Gruppe zusammengefassten Studien untersuchen die Zusammenhänge von Lehrervorstellungen und anderen veränderlichen Größen, z. B. inwieweit die Vorstellungen der Lehrpersonen mit denen ihrer Schülerinnen und Schüler übereinstimmen (vgl. Boyer/Tiberghien 1989), in welchem Maße die Vorstellungen der Lehrpersonen Einfluss auf die Leistung ihrer Schülerinnen und Schüler haben (vgl. Dubberke et al. 2008), ob Vorstellungen und Ziele von Lehrpersonen übereinstimmen (vgl. Aguirre/Speer 2000) oder Lehrervorstellungen mit Scaffholding-Maßnahmen zusammenhängen (vgl. Kleickmann et al. 2010). Auch wenn inzwischen einige Studien vorliegen, die den Zusammenhang zwischen teachers' beliefs und anderen Variablen untersuchen, gibt es hier noch verschiedene Desiderata, wie es beispielsweise Aguirre und Speer (2000, S. 330) für das Zusammenwirken von teachers' beliefs und goals konstatieren. Die Zusammenhänge zwischen Vorstellungen und Zielen von Lehrpersonen näher zu beleuchten und diese Ergebnisse mit der Analyse des unterrichtlichen Handelns von Lehrpersonen zu verknüpfen, könnte auch dazu beitragen, den bisher nur unzureichend belegten Zusammenhang zwischen Vorstellungen und Handlungen näher zu (er)klären. Aber auch der Einfluss von Lehrervorstellungen auf die Schülerinnen und Schüler gilt noch als unzureichend erforscht (vgl. u. a. Hartinger et al. 2006). Auch internationale Vergleiche sind bisher eher selten bzw. liegen bisher nur für wenige Fächer und Länder vor (vgl. u. a. Chin/Barber 2010; Klassen et al. 2008). Verschiedene Studien untersuchen den Einfluss von teachers' beliefs und ihre Bedeutung für die Einführung und Nutzung neuer Technologien und Medien in der Schule, da Lehrervorstellungen auch als Barrieren wirken können, sodass Innovationen in der Schule nicht eingesetzt bzw. genutzt werden (vgl. u. a. Kim et al. 2013).
Es lässt sich festhalten, dass sowohl qualitative als auch quantitative Ansätze zur Erhebung von Lehrervorstellungen eingesetzt werden. Insbesondere auf der Ebene der explorativen Erhebung von Vorstellungen sind jedoch qualitative Ansätze aufgrund ihrer Eignung für solche Fragestellungen üblich. Das Interview stellt hierbei die häufigste Erhebungsmethode dar. Es wird außerdem deutlich, dass Studien zu Lehrervorstellungen häufiger in naturwissenschaftlichen Fachdidaktiken durchgeführt wurden und in den sozialwissenschaftlichen (und anderen) Fachdidaktiken in Bezug auf Lehrpersonen und ihre Vorstellungen Forschungsbedarf besteht. Der Status quo der Lehrervorstellungsforschung in den Sozialwissenschaften wird im folgenden Kapitel dargestellt.
- [1] Vgl. hierzu Kapitel 3.3
- [2] vgl. Aguirre et al. 1990; Boyer/Tiberghien 1989; Freire/de Sanches 1992; Flores et al. 2000; Gustafson/Rowell 1995; Heran-Dörr et al. 2007; Huibregtse et al. 1994; Kleickmann et al. 2010; Lederman 1999; Levitt 2001
- [3] vgl. Aguirre/Speer 2000; Dubberke et al. 2008; Leuchter et al. 2006; Stipek et al. 2001
- [4] vgl. Kuzborska 2011; Shinde/Karekatti 2012
- [5] vgl. u. a. Adler 1984; Allenspach 2012; Anderson et al. 1997; Cantu 2001; Chin/Barber 2010; Dunkin et al. 1998; Heilman 2001; Klee 2008; Weschenfelder 2014