Rechtssystem und Verfassungsgericht
Ost-Timors Rechtssystem ist geprägt von der portugiesische Tradition des römischen Rechts (civil law) mit dem Vorrang der geschriebenen Gesetze als Rechtsquellen einerseits und dem traditionellen (adat oder lisan) Recht andererseits. Rechtsquellen im engeren Sinne sind das indonesische Besatzungsrecht, Verordnungen der UNTAET, die Verfassung sowie die seit 2002 in Kraft getretenen Gesetze und Verordnungen. In den ländlichen Gebieten dominieren informelle, gewohnheitsrechtliche Systeme der Rechtsprechung durch lokale Amtsträger, Älteste (lia nain) oder andere angesehene Persönlichkeiten (Roschmann 2008; Asia Foundation 2009; Grenfell 2011; Marriott 2012).
Laut Verfassung sind die Gerichte unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 119). Die Richterernennung, die Verwaltungsaufsicht und die Disziplinargewalt über die Gerichte liegen beim Obersten Justizrat. Dieser besteht aus je einem von Präsident, Parlament, Regierung und der Versammlung der Richter gewählten Mitglied. Den Vorsitz führt der Präsident des Obersten Gerichtshof als ex officio Mitglied (Art. 128). Zuständig für zivil-, sozialund strafrechtliche Angelegenheiten sind in erster Instanz die Distriktgerichte und das Militärgericht, das die Strafgerichtsbarkeit über Angehörige der Streitkräfte ausübt (Art. 130), in zweiter Instanz das Berufungsgericht. Ferner sind Verwaltungsund Steuergerichte vorgesehen, an deren Spitze ein Oberstes Verwaltungsund Steuergericht steht, das als Rechnungshof zugleich die öffentlichen Ausgaben überwacht (Art. 129). Der Generalstaatsanwalt wird vom Staatspräsidenten auf sechs Jahre ernannt und steht dem Oberster Rat für Strafverfolgung vor, dessen insgesamt vier Mitglieder vom Staatspräsidenten, der Regierung, dem Parlament und den Staatsanwälten des Landes ausgewählt werden (Art. 134). Allerdings sind die Bestimmungen über das Militärgericht, die Verwaltungsund Steuergerichte, den Rechnungshof und den Obersten Gerichtshof nicht umgesetzt worden. Die Aufgaben des Verfassungsgerichts übernimmt das Berufungsgericht. Zwei seiner Richter werden vom Obersten Justizrat, ein Richter vom Nationalparlament ausgewählt. Die Amtszeit beträgt vier Jahre und kann vom Justizrat erneuert werden.
Das Berufungsgericht prüft in seiner Eigenschaft als Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns. Klageberechtigt ist nur der Staatspräsident; eine Verfassungsbeschwerde ist nicht vorgesehen. Bürger, die ihre Rechte durch den Staat verletzt sehen, können sich an den unabhängigen Ombudsmann wenden. Dieser kann allerdings nur Empfehlungen aussprechen. Der Staatspräsident kann die vorbeugende Überprüfung von Gesetzen und Verordnungen sowie die abstrakte Normenkontrolle beantragen (Art. 85 e). Eine „konkrete“ Normenkontrolle findet im Rahmen eines diffusen Systems statt, bei dem die einzelnen Gerichte zwar selbst über die Anwendung von Normen entscheiden, die Letztentscheidung jedoch beim Verfassungsgericht (d. h. dem Berufungsgericht) liegt (Art. 126 I d). Eine an die Verfassung Portugals angelehnte Besonderheit ist das Unterlassungsverfahren, in dem die Verfassungswidrigkeit ausbleibender Maßnahmen zur Ausführung von Verfassungsnormen überprüft wird (Art. 126 I c). Darüber hinaus entscheidet das Verfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit politischer Parteien bzw. deren Auflösung sowie auf Antrag des Parlaments über die Präsidentenanklage (Art. 79 IV).
Wie erwähnt, haben Präsidenten in der Vergangenheit das Instrument der Normenkontrolle genutzt, um Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen zu lassen. Allerdings hat das Parlament die Autorität des Gerichts wiederholt missachtet: 2003 erklärte das Berufungsgericht im Rahmen der präventiven Normenkontrolle zwei Bestimmungen des Entwurfs über das Einwanderungsund Asylgesetz für verfassungswidrig. Dennoch verabschiedete die Legislative den Entwurf ohne die geforderten Änderungen. Im Jahre 2008 erklärte das Gericht den vom Parlament verabschiedeten Haushaltsplan der Regierung in Teilen für verfassungswidrig. Der Parlamentspräsident forderte eine Revision der Entscheidung sowie die Disziplinierung des Gerichts, während Premierminister Gusmão erklärte, seine Regierung werde die Entscheidung ignorieren (Wigglesworth 2010, S. 233; Grenfell 2011, S. 135).
Erschwert wird der Aufbau eines funktionierenden Justizsystems als Voraussetzung für die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit u. a. durch die schlechte personelle Ausstattung der Justiz. Bis 1999 waren alle Staatsanwälte und Richter aus anderen Teilen Indonesiens abgeordnet. Der durch den indonesischen Abzug entstandene Mangel an qualifizierten einheimischen Juristen konnte bislang nicht ausgeglichen werden. Gegenwärtig (Juli 2012) sind sieben von 26 Richterposten sowie fünf von 23 Staatsanwaltschaften mit Juristen aus portugiesisch-sprachigen Ländern besetzt (DSGU-UNMIT 2008, S. 96). Auch deshalb hat sich Portugiesisch faktisch als Gerichtssprache etabliert (Marriott 2012, S. 59). Dies beeinträchtigt jedoch den Zugang der Bevölkerung zum formalen Rechtsystem: Nach einer Untersuchung von 2009 verstehen weniger als 10 % der Befragten die Sprache, im Unterschied zu Tetum, das von mehr als 80 % verstanden wird (Asia Foundation 2009, S. 15). Zudem reicht das staatliche Gerichtswesen kaum über urbane Gebiete hinaus. Derzeit gibt es nur in vier der 13 Distrikte (Dili, Baucau, Suai und Oekussi) überhaupt ein Gericht. Nach Angaben der Asia Foundation (Asia Foundation 2009, S. 15, 28) hatten gerade einmal 54 % der Befragten außerhalb der Hauptstadt Dili von der Existenz staatlicher Gerichte gehört, 41 % wussten, dass es Anwälte gibt.
Aufgrund unzureichender Kapazitäten und Funktionsschwächen der staatlichen Gerichte haben lokale Rechtspraktiken und Streitschlichtungsmechanismen nach 1999 wieder an Bedeutung gewonnen (Asia Foundation 2009, S. 9; Marriott 2012). Das Ausweichen der Bürger auf informelle Verfahren ist in seiner Wirkung auf den Rechtsstaat ambivalent. Zwar vertrauen die Bürger ihnen mehr als den formalen Institutionen (Asia Foundation 2009, S. 13, 32). Aber sie sind nicht in der Lage, Menschenrechtsstandards, insbesondere die Rechte von Frauen und sozial Schwachen, zu wahren. Zudem ist die Abgrenzung zwischen den Rechtssystemen unklar und Gerichtsverfahren führen häufig zur Revision von zuvor auf der lokalen Ebene getroffenen Entscheidungen, was die Rechtsunsicherheit erhöht (Asia Foundation 2009, S. 8; Grenfell 2011, S. 136–140).
Nicht zuletzt aufgrund der geringen Strafverfolgungsquote, politischer Einflussnahme in „sensitiven“ Fragen, wie etwa dem Umgang mit meuternden Soldaten und der vom Staatspräsidenten gewährten Amnestien für politische Vergehen, hat sich eine Kultur der Straflosigkeit etabliert, die das Vertrauen in die Unparteilichkeit des Strafsystems beschädigt. Der Ombudsmann und die 2010 gebildete Antikorruptionskommission (Commissão Anti-Corrupção) können diese Defizite nicht kompensieren (ICG 2013, S. 36; Grenfell 2011, S. 136). Schließlich wird die Etablierung funktionierender Rechtsstaatlichkeit auch
Abb. 9.5 Korruption und Rechtsstaatlichkeit in Ost-Timor (2000–2011). Anmerkung: Der Corruption Perception Index misst das Korruptionsniveau in einem Land, wie es in Befragungen wahrgenommen wird, auf einer Skala von 1 bis 10; niedrige Werte zeigen ein hohes Korruptionsniveau an. Der Rechtsstaatsindikator der Weltbank bewegt sich zwischen -2.5 und 2.5; höhere Werte bedeuten mehr Rechtsstaatlichkeit. Quelle: Tranparency International (2014); Weltbank (2014)
behindert durch die fehlende juristische Aufarbeitung der Verbrechen im Bürgerkrieg von 1975 und während der indonesischen Besetzung sowie der 1999 von pro-indonesischen Milizen begangenen Menschenrechtsverletzungen (Rae 2009; Molnar 2010).
Diese Schwächen spiegeln sich im Rechtsstaatlichkeitsindex der Weltbank wider. Hier erreicht Timor-Leste nach Myanmar die zweitschlechteste Platzierung aller südostasiatischen Staaten. Auch das wahrgenommene Korruptionsniveau ist hoch (Abb. 9.5). Nach den Daten von Transparency International werden nur in Laos, Kambodscha und Myanmar die staatlichen Institutionen als korruptionsanfälliger bewertet. Vorwürfe des Amtsmissbrauchs gegen hochrangige Politiker und Regierungsmitglieder sind an der Tagesordnung und die Strategie der Regierung Gusmão, sich mit expansiver Ausgabenpolitik gesellschaftlichen Frieden „zu erkaufen“, hat der Korruption in Staat und Politik noch Vorschub geleistet (Wigglesworth 2010, S. 233 ff.).