Wegbereiter der ökonomischen Analyse des Völkerrechts

Vorarbeiten zur ökonomischen Analyse des Völkerrechts finden sich vor allem, ne- ben den bereits angesprochenen Internationalen Beziehungen, natürlich in der Völ- kerrechtswissenschaft selbst, der Internationalen Ökonomie und in der Internatio- nalen Politischen Ökonomie. Ein erster Ansatz, der die Einhaltung von Völkerrecht auf das Kosten-Nutzen-Kalkül der Staaten zurückführte, stellte die 1968 erstmals er- schienene Monographie „How Nations Behave“ von Louis Henkin (1979) dar. Neu- hold (1976) übernahm diesen Ansatz auch in die deutschsprachige Völkerrechts- lehre. Hierzulande blieb der ökonomische Ansatz zur Erklärung des Völkerrechts jedoch für mehr als 20 Jahre ohne spürbaren Einfluss (Neuhold, 1999).

Anders stellte sich die Situation in den USA dar. Ausgehend von den Vorarbei- ten im Bereich der Internationalen Politischen Ökonomie, in der bereits früh Ökonomen und Politikwissenschaftler interdisziplinäre Kooperationen eingegangen wa- ren (Bieling, 2007), entwickelten sich Ansätze, die auf der Theorie der rationalen Entscheidung fußten, zum vorherrschenden Paradigma. Auffallend an dieser Ent- wicklung ist jedoch, dass die Übernahme ökonomischer Theorie und Methodik zur Erklärung der internationalen Beziehungen und des Völkerrechts nicht durch Öko- nomen, sondern durch Politikwissenschaftler angestoßen wurde. Zwar finden sich auch im Bereich der Internationalen Ökonomie Arbeiten, die sich mit der Analyse internationaler Aspekte beschäftigen, das Hauptaugenmerk liegt bei diesen aller- dings auf einer Analyse der Weltwirtschaft und der Interdependenz globaler und nationaler Erscheinungen (Novy und Jäger, 2005). Völkerrechtliche Aspekte spie- len dabei nur eine untergeordnete Rolle.

So war, mit Ausnahme der Forschungsarbeiten aus der Richtung der Internationa- len Politischen Ökonomie, die Analyse von traditionellem Völkerrecht unter Rück- griff auf ökonomische Methodik zunächst eine Domäne der Politikwissenschaftler (Rittberger und Hummel, 1990). In den 1990er Jahren stießen schließlich die ersten Völkerrechtler in diesen Bereich vor, woraus sich der interdisziplinäre Ansatz „In- ternational Law & International Relations“ entwickelte. Nach Ansicht von Slaughter et al. (1998, S. 370ff.) überwand die Völkerrechtslehre damit nicht nur ihr „Realitätsdefizit“, sondern verhinderte auch ihre Irrelevanz. [1] Insbesondere diese Vorarbeiten stellten den Nährboden für die sich entwickelnde ökonomische Analyse des Völkerrechts dar, die sich spätestens um die Jahrtausendwende als eigenständiger Forschungsbereich formierte.

Mit der Analyse der wichtigsten Entwicklungslinien und Theorieansätzen be- fasst sich das folgende Kapitel. Zuvor sollen jedoch die erkenntnisleitenden Fragen formuliert werden.

Identifikation der erkenntnisleitenden Fragen

Die ökonomische Analyse des Völkerrechts kann mittlerweile auf eine große Zahl an Vorarbeiten zurückgreifen. Allerdings fehlt bislang eine umfassende Übersicht über die vorhandene Literatur. Die im nächsten Kapitel folgende Darstellung soll einen Einblick in den Stand der aktuellen Forschung geben. Hier sollen die folgen- den Fragen beantwortet werden:

1. Welche sind die Schnittstellen der ökonomischen Analyse des Völkerrechts mit alternativen Ansätzen zur Analyse des Völkerrechts und welche Einflüsse kön- nen identifiziert werden?

2. Lassen sich entstehende Denkschulen der ökonomischen Analyse des Völker- rechts beobachten und unterscheiden sich diese in ihrem Analysefokus?

3. Welche Erkenntnis- bzw. Methodikdefizite können in der bisherigen Vorgehens- weise der ökonomischen Analyse des Völkerrechts identifiziert werden?

4. Gibt es identifizierbare Bereiche, denen sich die ökonomische Analyse des Völ- kerrechts bisher besonders widmet, und gibt es darüber hinaus Bereiche, für deren Analyse die ökonomische Theorie prädestiniert ist?

5. Welche Fragestellungen hat die ökonomische Analyse bisher im Bereich des Völkerrechts vernachlässigt? Gibt es ökonomische Ansätze (bspw. Instrumen- te und Methoden), die bislang noch nicht auf völkerrechtliche Fragestellungen angewendet worden sind?

6. Welchen Erkenntnisfortschritt bringt die Integration der Ökonomik in die Völ- kerrechtslehre?


  • [1] Die Zusammenarbeit von Völkerrechtlern und Politwissenschaftlern dauert somit bereits rund zwei Jahrzehnte an. Aus diesem Anlass finden sich in Dunoff und Pollack (2013) ausführliche Darstellungen der gesamten Entwicklung der interdisziplinären Forschung, deren Themen sich teilweise mit denen in der vorliegenden Arbeit überschneiden. Für den interessierten Leser stellen die durch Dunoff und Pollack herausgegebenen Übersichtsarbeiten daher eine gute Ergänzung zur Vervollständigung des Wissensstands interdisziplinärer völkerrechtsbezogener Forschung dar.
 
< Zurück   INHALT   Weiter >