Nationaler Luftraum
Im Luftraum über dem eigenen Territorium besitzt der Staat zwar die vollständige und alleinige Souveränität, sein Verhalten dort ist, zumindest soweit es die Inter- essen anderer Staaten berührt, dennoch (indirekten) Beschränkungen unterworfen. Er muss sein Verhalten am Rechtsverständnis bzw. -empfinden anderer Staaten und damit am Völkerrecht messen lassen. Daher sollte auch das Prozedere, wenn ein fremdes Flugzeug im nationalen Luftraum abgefangen wird, weitgehend den Vor- gaben des Völkerrechts entsprechen.
5.5.1.1 Zivile Flugzeuge
Deutlich wird der disziplinierende Einfluss der Erwartungen anderer Staaten auf die Ausübung der Souveränität am eingangs erwähnten folgenschweren Zwischenfall mit dem Flug KAL007 am 01.09.1983. An diesem Tag schoss die sowjetische Luft- waffe eine koreanische Passagiermaschine ab, die anscheinend unwissentlich über sowjetischem Hoheitsgebiet flog. Obwohl die UdSSR den Vorfall mit dem rechts- widrigen Einflug in das eigene Territorium und der Ausübung ihrer Souveränität rechtfertigte, kam es zu einem internationalen Aufschrei der Empörung (Dallin, 1985). [1] Die Staatengemeinschaft vertrat übereinstimmend die Auffassung, dass es das bestehende Völkerrecht nicht zuließe, ein ziviles Flugzeug, von dem keine Ge- fahr ausgehe, abzuschießen. Als Reaktion wurde die Chicago Konvention um den Art. 3bis erweitert, der den Einsatz von Waffengewalt ggü. fliegenden zivilen Flug- zeugen untersagt. [2] Allerdings ist der Art. 3bis in der Form eingeschränkt, dass er die Rechte der Staaten aus der Charta der Vereinten Nationen nicht beschneidet.
Sollten zivile Flugzeuge eine akute Bedrohung darstellen, ist daher in manchen Fällen als letztes Mittel auch ihr Abschuss möglich (Foont, 2007). Nach Geiß ist es jedoch fraglich, ob der Abschuss eines zivilen Flugzeugs mit dem Recht auf Selbst- verteidigung (Art. 51 UN-Charta) begründet werden kann, wenn die Gefährdung von nichtstaatlichen Aggressoren ausgeht (vgl. Geiß, 2005, S. 255). Hierbei han- delt es sich, spätestens seit den New Yorker Terroranschlägen vom 11.09.2001, um eine regelmäßig thematisierte Fragestellung, die nicht in allen Staaten geklärt ist. So hat bspw. das deutsche Bundesverfassungsgericht jenen Teil des Luftsicherheits- gesetzes für verfassungswidrig erklärt, der den Abschuss ziviler Flugzeuge, die zu Terrorzwecken eingesetzt werden sollen, erlaubt. [3] Inwieweit im Ernstfall die Ent- scheidung des Bundesverfassungsgerichts politische Entscheidungen präjudizieren würde, ist fraglich (vgl. o.V., 2007b,c), obwohl die Verfassungswidrigkeit im Juli 2012 erneut durch des Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde (BVerfG, 2012).
In manchen Fällen kann es jedoch gerechtfertigt sein, ein ziviles Flugzeug zur Identifikation oder zu weiteren Kontrollen im nationalen Luftraum abzufangen.
Abb. 5.4 ICAO-Vorschläge für die Manöver zur visuellen Identifizierung
Quelle: Eigene Darstellung nach ICAO (1990, S. 4-3).
Zwar dürfen zivile Flugzeuge in aller Regel fremden nationalen Luftraum durch- fliegen, dabei sind sie aber an nationale Vorgaben gebunden. Wenn ein ziviles Flug- zeug von vorgegebenen Routen abweicht, es ausgewiesene Sperrgebiete überfliegt, es versäumt, seiner Identifikationspflicht nachzukommen, oder es begründete Zwei- fel an seinem zivilen Status gibt, werden staatliche Sicherheitsinteressen tangiert. Können die Zweifel nicht mit der Identifikation ausgeräumt werden, kann der über- flogene Staat auch weitergehende Maßnahmen (Hinausbegleiten aus dem nationalen Luftraum bzw. Sperrgebiet, Vorgabe zu landen u.ä.) ergreifen (Annex 2 – Appen- dix 2: 1.1 (b)). Die ICAO schreibt dazu eindeutig vor: „[The] interception of civil aircraft will be undertaken only as a last resort“ (Annex 2 – Appendix 2: 1.1 (a)).
Um Abfangmanöver sicherer zu machen, hat die ICAO weitgehende Empfehlun- gen veröffentlicht. Es ist jedoch strittig, ob die ICAO damit ihre Kompetenzen über- schreitet, da dieser Leitfaden auch die (staatlichen) Abfangjäger betrifft (vgl. Milde, 1986, S. 1 bzw. Milde, 2001, S. 159). Allerdings können die Vorgaben auch oh- ne formale Verbindlichkeit für Staatsflugzeuge als Fokalpunkt für Koordination im spieltheoretischen Sinne dienen. Die USA bspw. haben die ICAO-Vorgaben weit- gehend in die eigenen Regularien übernommen (Federal Aviation Administration, 2011, Abschn. 5-6-2. (a3)). Zum besseren Verständnis soll der empfohlene Verlauf der Abfangmanöver im Folgenden kurz erläutert werden.
Der erste Schritt eines Abfangmanöver ist immer die Identifikation des fremden Flugzeugs (vgl. hierzu und zum Folgenden ICAO, 1990, S. 4-1). Dazu nähern sich typischerweise (Phase 1) die Abfangjäger dem abzufangenden Flugzeug von hin- ten an. Der Rottenführer (eng: ICAO: element leader; USA: flight leader) fliegt im Sichtfeld des Piloten des abzufangenden Flugzeugs links an diesem vorbei und posi- tioniert sich etwas oberhalb und kurz vor dem abzufangenden Flugzeug (vgl. Abbil- dung 5.4). Sollte ggf. ein sicherndes Flugzeug (eng. wingman) am Manöver beteiligt sein, verbleibt dieses hinter dem abzufangenden Flugzeug. In Phase 2 nähert sich der Rottenführer dem zu identifizierenden Flugzeug so nah an, wie es zur Identifikation notwendig ist. Dabei ist der Pilot des Abfangjägers durch die ICAO-Bestimmungen Abb. 5.5 ICAO-Vorschläge für die Manöver zur Begleitung
Quelle: Eigene Darstellung nach ICAO (1990, S. 4-4).
angehalten, Manöver, die die Besatzung oder die Passagiere des zivilen Flugzeugs ängstigen könnten, zu unterlassen. Nachdem die Identifikation zufriedenstellend ab- geschlossen ist, schwenken in Phase 3 alle Abfangjäger in einem direkten Bogen ab. Wichtig ist hierbei, dass das zivile Flugzeug durch die ICAO-Bestimmungen zwin- gend dazu angehalten ist, sämtliche Vorgaben der Abfänger einzuhalten, auf einer geraden Flugroute weiterzufliegen und plötzliche Manöver zu unterlassen.
Sollte die visuelle Identifikation nicht ausreichen oder soll das zivile Flugzeug bspw. aus einer Sperrzone hinausbegleitet werden, kann ihm dies mit dem Manöver, das in Abbildung 5.5 dargestellt ist, signalisiert werden. [4] In diesem Zusammenhang besteht auch die Möglichkeit, das zivile Flugzeug auf einem vorgeschriebenen Flugplatz landen zu lassen. Das setzt aber dessen Kooperationsbereitschaft voraus, da eine gefahrlose Landung nicht erzwungen werden kann.
Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass mit dem Abfangen eines Zi- vilflugzeugs die Sicherstellung von Kontrolle und nicht notwendigerweise irgend- eine Form von Gewaltanwendung bezweckt wird. Erst wenn sich das zivile Flug- zeug der Identifikation widersetzt oder zu einer akuten Bedrohung wird, ist ei- ne direkte Gewaltanwendung zulässig. Die vorhandenen Daten über die Häufig- keit von Abfangmanövern zeigen aber, dass dies normalerweise nicht der Fall ist. Bspw. in den USA wurde von den bislang rund 242 im Zusammenhang mit der US- Flugüberwachungszone und den (temporären) Flugverbotszonen (TFR) abgefange- nen Flugzeugen (vgl. zu den Gesamtzahlen Zuschlag, 2005, S. 3ff.), kein einziges zerstört.
5.5.1.2 Staatliche Flugzeuge
Für staatliche Flugzeuge gelten, wie oben angeführt, die Regeln der Chicago Kon- vention nicht. Es existiert auch kein völkergewohnheitsrechtliches Regime, das eine ausreichend einheitliche Staatenpraxis herbeiführen würde. Tatsächlich ist die Staa- tenpraxis, wenn ausländische Staatsflugzeuge abgefangen werden, sehr heterogen. Ausländische Staats- und vor allem Militärflugzeuge tangieren nationale Sicher- heitsinteressen in einem viel stärkeren Maße als zivile Flugzeuge, insbesondere, wenn zwischen den beteiligten Staaten Konflikte bestehen. In diesem Fall erhöhen sich die Anreize, eher zu drastischen Mitteln zu greifen. Zwar steht auch der Ab- schuss eines staatlichen Flugzeugs in Friedenszeiten im Widerspruch zu allen huma- nitären Prinzipien, ein explizites, kodifiziertes Verbot ist im Völkerrecht nichtsdes- totrotz nicht vorhanden (vgl. Milde, 2001, S. 156f.). Drangen staatliche Flugzeuge unerlaubterweise in den nationalen Luftraum eines fremden Staats ein, wurden sie daher bis in die 1970er Jahre auch oftmals beschossen (vgl. bspw. Lissitzyn, 1953, S. 559 bzw. Bentzien, 1982, S. 112ff.). [5]
Die Reaktion auf den unerlaubten Einflug eines Staatsflugzeugs liegt im Ein- schätzungsspielraum des betroffenen Staats und ist vom Einzelfall abhängig. Nach Milde kann dieser fordern, dass das unerlaubt in den nationalen Luftraum einge- drungene ausländische Staatsflugzeug diesen umgehend wieder verlässt. Darüber hinaus kann der betroffene Staat das fremde Flugzeug aber auch abfangen lassen bzw. seine Landung erzwingen, um weitergehende Untersuchungen durchzuführen. Im Extremfall könnte das fremde Flugzeug ebenso konfisziert und ein Gerichtsver- fahren gegen die Besatzung durchgeführt werden. Welche außenpolitischen Kon- sequenzen die Luftraumverletzung hat, ist abhängig vom zwischenstaatlichen Ver- hältnis. Eine Streitbeilegung kann im einfachsten Fall durch eine offizielle Entschul- digung erfolgen (vgl. Milde, 2001, S. 156f.). Die Konsequenzen eines Abschusses sind naturgemäß ungleich gravierender; im Extremfall könnte dieser eine Kriegser- klärung nach sich ziehen.
Luftraumverletzungen durch Staatsflugzeuge sind heute aber seltener zu beob- achten, als noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts. [6] Tatsächlich verlagern sich die Abfangmanöver zunehmend in den internationalen Luftraum, da die große Reichweite moderner Luftraumüberwachungssysteme oft eine ausreichende Vorwarnzeit ermöglicht, um prophylaktisch Abfangjäger zu starten.
Typischerweise werden die fremden staatlichen Flugzeuge zur Identifikation ab- gefangen und im Anschluss begleitet (Tran, 2007; Gertz, 2010; Neild, 2010). Sollten die fremden Flugzeuge aber dem nationalen Luftraum zu nahe kommen, wird auch zu drastischeren Mitteln gegriffen (o.V., 2007a), bspw. werden diese in riskanten Manövern abgedrängt. Während in Japan derartige Zwischenfälle umgehend publik gemacht werden (vgl. Abschnitt 6.3 auf Seite 111), erregen sie in Europa eher wenig Aufmerksamkeit. Nichtsdestotrotz ereignen sich Vorkommnisse mit Staatsflugzeu- gen auch in Europa regelmäßig. So rückten britische Kampfflieger im Jahr 2009 innerhalb von 12 Monaten 20 Mal aus, um russische Bomber abzufangen, wobei britischer Luftraum in keinem Fall verletzt wurde (Norton-Taylor, 2010). Auch im internationalen Luftraum um die USA bzw. um Kanada können ähnliche Zwischen- fälle beobachtet werden (Gertz, 2010).
Wie einleitend bereits ausgeführt wurde, gibt es kein völkerrechtliches Regel- system, das bei Abfangmanövern zwischen staatlichen Flugzeugen an den Außen- grenzen des nationalen Luftraums zum Tragen kommt. Aus diesem Grund kann es – vor allem bei einem angespannten zwischenstaatlichen Verhältnis – zu Problemen kommen, da die Abfangmanöver leicht in ein sog. „Chicken Game“ ausarten kön- nen. Ob es dazu kommt, hängt vom Verhältnis zwischen den beteiligten Staaten ab. Die Flüge russischer Bomber dienen bspw. offenbar der Demonstration neuer Stärke (Gertz, 2010). Die Identifikation der russischen Flugzeuge kann daher durchaus von russischer Seite erwünscht sein. Herrscht hingegen, wie in Ostasien (vgl. Kapitel 6) oder der Ägäis (vgl. Kapitel 10), ein angespanntes Verhältnis zwischen Staaten mit großen militärischen Kapazitäten, entsteht eine nicht zu vernachlässigende Eskala- tionsgefahr.
Im internationalen Luftraum ist die rechtliche Situation eine andere. Aus diesem Grund soll diese Thematik kurz im folgenden Abschnitt dargestellt werden.
- [1] Eine Verurteilung im UNO-Sicherheitsrat verhinderte nur ein sowjetisches Veto (Isaacson et al., 1983).
- [2] Der Art. 3bis besitzt indes nicht die gleiche universelle Geltung wie die „ursprüngliche“ Chicago Konvention, u.a. die USA haben diese Erweiterung nicht ratifiziert.
- [3] Der Hauptablehnungsgrund lag in der unzulässigen Abwägung menschlichen Lebens. Da- zu BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15.2.2006, Absatz-Nr. (1 – 156), bverfg.de/ent scheidungen/rs20060215_1bvr035705.html, (besucht am 02.12.2011). Zwar hat das Plenum des Bundesverfassungsgerichts diese Entscheidung in einem neueren Urteil teilweise wieder ver- worfen, ein Abschuss, der die Tötung unbeteiligter Passagiere nach sich ziehen würde, ist je- doch nach wie vor nicht zulässig (BVerfG, 2 PBvU 1/11 vom 3.7.2012, Absatz-Nr. (1 – 89), bverfg.de/entscheidungen/up20120703_2pbvu000111.html – besucht am 18.08.2012).
- [4] Zusätzlich ist auch eine weitergehende Kommunikation zwischen den Flugzeugen in Form standardisierter visueller Zeichen möglich.
- [5] Teilweise ist das noch immer der Fall (vgl. Fn. 3 auf Seite 190).
- [6] Soweit heute noch Luftraumverletzungen auftreten, konzentrieren sie sich zumeist auf gewisse „Hot Spots“.