Theoretische Ansätze zur Erklärung von Einstellungen gegenüber der EU
Um die Einstellungen der EU-Bürger gegenüber der europäischen Integration zu erklären, wurden unterschiedliche theoretische Ansätze entwickelt. Der Forschungsstand hierzu bezieht sich größtenteils auf die breiter erforschte instrumentelle Dimension. Den wohl traditionsreichsten Erklärungsstrang bildet der utilitaristische Ansatz, der als ein „major approach in literature“ (Sørensen 2007, S. 79) gilt. Er stellt den ökonomischen Nutzen der Integration in das Zentrum der Erklärung. Dabei werden Erwartungen über den Einfluss des Nutzens sowohl für die Länder als auch die Bürger formuliert. Andere Theorieansätze ziehen integrationsspezifische Merkmale der Länder und Einstellungen der Bürger gegenüber dem nationalen politischen System heran. Einen weiteren Strang bilden identitätsbezogene Erklärungen (Lubbers und Scheepers 2007, S. 645), die aber nicht im Fokus der Untersuchung stehen.
Utilitaristische Erklärungsansätze
Dass ökonomische Faktoren als entscheidend für die Bewertung der Europäischen Gemeinschaft/Union1 gelten, leitet sich aus dem Bild ab, das die Gemeinschaft von sich gezeichnet hat und das ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit lange Zeit prägte: „[I]f the EC has promised anything, it has promised the enhancement of member states' national economic welfare“ (Eichenberg und Dalton 1993, S. 132). Bereits mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahr 1951 wurde das Ziel verfolgt, die wirtschaftlichen Perspektiven der Mitgliedstaaten zu verbessern (Anderson und Kaltenthaler 1996, S. 176).
Vertreter des utilitaristischen Erklärungsansatzes gehen daher davon aus, dass sich Faktoren, die unmittelbar oder mittelbar über mit der Integration verbundene wirtschaftliche Entwicklungen Auskunft geben, auf die Haltung der Bürger der Mitgliedstaaten auswirken2. Studien, die den Einfluss der ökonomischen Bedingungen überprüfen, erbringen allerdings sehr unterschiedliche Ergebnisse. Untersuchungen der nur mittelbar mit der EU-Integration verbundenen Faktoren der wirtschaftlichen Entwicklung, gemessen über Indikatoren wie das BIP, die Arbeitslosenquote und die Inflationsrate, zeigen für die 1970er und 1980er Jahre Bestätigungen der Annahme, dass negative wirtschaftliche Entwicklungen zu schlechteren Bewertungen in der Bevölkerung führen (Anderson und Kaltenthaler 1996; Handley 1981; Marsh 1999). Für den Zeitraum seit den 1990er Jahren fallen die Ergebnisse ambivalent aus, was auf die Vertiefung der Integration durch den Maastricht-Vertrag zurückgeführt wird: „[S]ince the Union has become far more than an economic enterprise, citizen evaluations of integration should be based on factors other than (or in addition to) economic performance“ (Eichenberg und Dalton 2007, S. 139, Klammern im Original). Auch die Ergebnisse für die unmittelbar mit der EU verknüpften wirtschaftlichen Indikatoren des Intra-EU-Handels eines Landes und der Zahlung bzw. des Erhalts von Geldern aus dem EU-Haushalt sind nicht eindeutig. So finden Mahler et al. (2000) Bestätigungen für die Annahme, dass sich mit steigendem Handel mit anderen Mitgliedsländern und steigenden finanziellen Zuwendungen aus dem EU-Haushalt Einstellungen verbessern. Ciftci (2005) kommt hingegen zu dem Ergebnis, dass der Intra-EU-Handel unter Kontrolle anderer ökonomischer und die Integrationsphasen betreffender Faktoren keinen signifikanten Effekt auf den durchschnittlichen Supportlevel besitzt (S. 486).
Neben der makroökonomischen Entwicklung wird in utilitaristischen Ansätzen auch die direkt gemessene Bewertung der wirtschaftlichen Lage der Bürger zur Erklärung der Einstellungen gegenüber der EU-Integration herangezogen. Denn es ist möglich, dass die individuelle Einschätzung und die tatsächliche Veränderung der ökonomischen Situation unterschiedlich ausfallen. Gabel und Whitten gehen davon aus, dass „objective measures of the national economy may be poor proxies for citizens' economic sensitivities“ (1997, S. 82). Die Ergebnisse ihrer Studie zeigen, dass die subjektiven Bewertungen der wirtschaftlichen Lage des eigenen Landes im Vergleich zur objektiven wirtschaftlichen Entwicklung erklärungskräftiger sind. Positive Einschätzungen fördern die Unterstützung der europäischen Integration (Gabel und Whitten 1997, S. 92).
Die dargestellten Forschungsergebnisse beziehen sich auf Studien, deren abhängige Variablen der hier als instrumentelle Einstellungsdimension verstandenen Dimension entsprechen. Die Ergebnisse für die Vertiefungsdimension fallen etwas anders aus. Zwar finden Winter und Swyngedouw (1999) in Nettoempfängerländern eine größere Zustimmung in der Bevölkerung zur Vergemeinschaftung von Politikbereichen (S. 64). Lubbers und Scheepers kommen in einer aktuelleren Untersuchung hingegen zu dem Ergebnis, dass der finanzielle Nutzen aus der EU-Mitgliedschaft keinen Einfluss auf die Vertiefungsdimension besitzt (2007, S. 664).
Neben den bereits beschriebenen utilitaristischen Determinanten, werden in der Forschung auch sozioökonomische Merkmale der Befragten zur Erklärung von Einstellungen gegenüber der EU herangezogen. Dabei wird von einem unterschiedlichen individuellen Nutzen der Integration für verschiedene Bildungsschichten und Berufsgruppen ausgegangen. Dies wird mit der Art der Integration und ihren Konsequenzen begründet. Es wird argumentiert, dass die EU-Mitgliedschaft einem wirtschaftlichen Deregulierungsprogramm entspricht, das zur Liberalisierung der nationalen Arbeits- und Finanzmärkte geführt habe (Gabel und Palmer 1995, S. 6). Des Weiteren wird betont, dass viele Länder ihre Ausgaben – insbesondere wohlfahrtsstaatliche Ausgaben – im Zuge der Einigung reduziert und Anti-Inflationspolitik betrieben hätten, um die geforderten Konvergenzkriterien zur Einführung einer gemeinsamen Währung zu erfüllen (Eichenberg und Dalton 2007, S. 140; Gabel 1998b, S. 46–47). Die Folgen dieser Politik sollten insbesondere Menschen mit niedrigerer Bildung und niedrigeren beruflichen Fertigkeiten treffen. Für Menschen mit höherer Bildung und höheren Fertigkeiten sollten die Folgen der Integration hingegen positiv sein, da sich ihre Kompetenzen als „more valuable and transferable in an advanced industrial economy“ (Gabel und Palmer 1995, S. 7) erweisen[1]. Untersuchungen, die den Nutzen indirekt über die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Berufs- und Bildungsgruppen messen, finden Bestätigung für den erwarteten Einfluss dieser Merkmale (Gabel 1998a, S. 351; Gabel und Palmer 1995, S. 11–12).
- [1] Allerdings ist diese ökonomische Interpretation nicht die einzig mögliche. Inglehart (1970) geht vielmehr davon aus, dass eine höhere Bildung überhaupt erst eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema EU/EG und EU-Integration ermöglicht. EU-Unterstützung wird sich allerdings auch unter höher Gebildeten nur entwickeln, wenn das Thema in den Massenmedien und auch in den Bildungseinrichtungen prinzipiell positiv bewertet wird (Inglehart 1970, S. 47-48).