Forschungshypothesen

Im Fokus des vorliegenden Artikels steht die Frage, inwiefern sich der Einfluss der Determinanten auf die instrumentelle und die Vertiefungsdimension im Zeichen der Wirtschafts- und Eurokrise verändert. Die vorangegangenen Abschnitte haben sich auf die Darstellung der allgemeinen theoretischen Ansätze beschränkt, die zur Erklärung von Einstellungen gegenüber der EU-Integration entwickelt wurden. Sie bilden die Basis der für die Analyse gebildeten Mehrebenenmodelle. Über die allgemeinen Wirkungsannahmen hinaus werden nun zeitpunktspezifische Hypothesen aufgestellt, die im Analyseteil überprüft werden.

Die Beschreibung des Forschungsstandes zum Einfluss der makroökonomischen Entwicklung hat bereits angedeutet, dass es unterschiedliche Phasen der Integration gibt, in denen der Einfluss ökonomischer Faktoren variiert. In der Tendenz scheint der Einfluss – insbesondere infolge des Maastricht-Vertrages – zurückgegangen zu sein. Gänzlich verschwunden ist er allerdings nicht, wie Untersuchungen der 2000er Jahre zeigen (Mikhaylov und Marsh 2009, S. 159–160). Die Entwicklungen im Zuge der globalen Wirtschafts- und der beginnenden Eurokrise könnten zu einem Bedeutungsgewinn ökonomischer Faktoren geführt haben. Denn bei der Wirtschaftskrise handelte es sich um eine „synchrone globale Rezession, wie sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr vorgekommen war“ (Dyson 2010, S. 21). Im Anschluss an den Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 kam es auch in den EU-Ländern zu einem deutlichen wirtschaftlichen Abschwung, der bereits Ende des Jahres 2008 einsetzte und der sich im Jahr 2009 in einem Rückgang von über vier Prozent für die EU-27 niederschlug (Eurostat 2013). An diese Rezession schloss sich ab Frühjahr 2010 die Eurokrise an. Zu diesem Zeitpunkt wurde offenkundig, dass der Eurostaat Griechenland seine fälligen Kredite nicht würde zurückzahlen können. Daraufhin wurde dem hochverschuldeten Land erstmals von seinen europäischen Partnern mit Krediten finanziell unter die Arme gegriffen. Im Anschluss daran folgte im Mai 2010 die Einführung eines Euro-Rettungsschirms. Diese Maßnahmen markierten für die Politik einen Wendepunkt, der die zuvor geltende „No bail out“-Klausel, also den Haftungsausschluss der Mitgliedsländer der Europäischen Union für andere Mitglieder, außer Kraft setzte. Die unterschiedlichen Krisengipfel und Entscheidungen rund um die Rettungsmaßnahmen wurden zudem von einem intensiven Medienecho begleitet (Picard und Lloyd 2013), was das Thema EU stärker als zuvor in einer vor allem ökonomischen Rahmung in den Fokus der Bürger gerückt haben sollte. Dieser Wechsel in der Politik und die Berichterstattung darüber sollten sich auch auf die Einstellungen der Bürger auswirken. Denn frühere Untersuchungen legen die Vermutung nahe, dass mögliche finanzielle Folgen aufgrund der Euromitgliedschaft negativ bewertet werden: „Budget cuts or policy reforms that appear to arise from the requirements of EMU are unlikely to escape a negative political reaction“ (Eichenberg und Dalton 2007, S. 145). Euro- und Wirtschaftskrise sollten sich ähnlich negativ auf die Einstellungen der Bürger auswirken. In Hypothese 1 wird daher angenommen, dass sich die durchschnittliche Bewertung der europäischen Integration in den EU-Staaten im Zuge der Krise verschlechtert hat. Diese Annahme lässt sich grundsätzlich für die instrumentelle und die Vertiefungsdimension treffen, da beide Dimensionen als output-sensible, spezifische Unterstützungsdimensionen gelten.

Hinter der erwarteten Veränderung der Einstellungen wird eine Bedeutungszunahme ökonomischer Erklärungsfaktoren im Zeichen der Krise vermutet. Dass ökonomische Kontextbedingungen in ökonomisch schwierigen Zeiten einen größeren Einfluss auf die Einstellungen gegenüber der EU-Integration besitzen, legen frühere Forschungsergebnisse zur Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren nahe (Eichenberg und Dalton 2007, S. 134). Die globale Wirtschaftskrise und die anschließende Eurokrise sollten daher ebenfalls zu einem stärkeren Einfluss ökonomischer Faktoren auf die Einstellungen zur EU-Integration führen. Dies wird anhand der prospektiven Einschätzung der wirtschaftlichen Lage und der Beschäftigungslage und über die aktuelle makroökonomische Entwicklung überprüft. Hypothese 2 lautet daher: Der Einfluss der Bewertung der wirtschaftlichen Lage steigt in der Krise an. Analog zu der Annahme zur Bewertung der wirtschaftlichen Lage wird für den Einfluss der Bewertung der Beschäftigungslage ebenfalls ein Einflusszuwachs angenommen (Hypothese 3). Für die objektive wirtschaftliche Entwicklung wird ebenfalls ein Anstieg des Einflusses in der Krise erwartet (Hypothese 4).

Zu zwei weiteren Indikatoren, die direkter Auskunft über die Betroffenheit der EU-Länder durch die Eurokrise als durch die Wirtschaftskrise geben, lassen sich ebenfalls Erwartungen krisenspezifischer Einflussveränderungen formulieren. Der Forschungsstand hat gezeigt, dass der finanzielle Nutzen bzw. die finanziellen Kosten der EU-Mitgliedschaft einen Einfluss auf die Bewertung der EU-Integration besitzen. Gerade in den Ländern, die als Nettozahler mehr in den EU-Haushalt einzahlen als sie daraus zurückbekommen, könnten sich negative Einstellungen noch verstärken, da die Eurokrise dort möglicherweise stärker als in den Nettoempfängerländern als zusätzlicher Kostenfaktor wahrgenommen wird. In Hypothese 5 wird daher davon ausgegangen, dass der Einfluss des Nettozahlerstatus in der Krise stärker ausfällt. Mit einer unterschiedlich wahrgenommenen Betroffenheit durch die Eurokrise lässt sich für einen Unterschied zwischen Euro- und Nicht-Euroländern argumentieren: Für die Bürger der Euroländer sollte sich die stärkere Betroffenheit durch die Eurokrise aufgrund der gemeinsamen Währung zusätzlich negativ auf die Einstellungen auswirken. Zum zweiten Untersuchungszeitpunkt zu Beginn der Krise kann daher erwartet werden, dass die Euromitgliedschaft einen negativen Einfluss auf die Bewertung der EU-Integration ausübt (Hypothese 6).

 
< Zurück   INHALT   Weiter >