Nationale und europäische Identitäten

Entsprechend der theoretischen Konzeptualisierung in ethnischen und staatsbürgerlichen Nationalismus wurde im Zuge der Operationalisierung angenommen, dass durch die subjektive Bedeutung der EU beide Facetten nationaler Identitäten erfasst werden. Aufgrund kontinuierlich erhobener Indikatoren sind auch Vergleiche im Zeitverlauf möglich. Hinter den Auffassungen, die EU bedeute Demokratie oder kulturelle Diversität, verbergen sich tendenziell staatsbürgerliche und patriotische Haltungen nationaler Identitäten. Wie theoretisch angenommen, begünstigen derartige Präferenzen die politische Unterstützung der EU. Für Individuen, die patriotische oder staatsbürgerliche Haltungen aufweisen, steigt die Wahrscheinlichkeit, die EU politisch zu unterstützen, um neun bis vierzehn Prozentpunkte an. Die Ergebnisse deuten an, dass Individuen mit einer patriotischen Identitätsauffassung der Kompetenzübertragung auf das europäische politische System und einer Zusammenarbeit mit anderen Nationalstaaten offener gegenüberstehen, da sie ihre Identität als inklusiv bezeichnen und Fremdgruppen nicht abwerten, was Hypothese 1 untermauert. Um zu überprüfen, ob sich im Zeitverlauf signifikante Veränderungen in der Erklärungskraft einzelner Determinanten ergeben, wurden in einem dritten Modell (siehe Tab. 3 im Anhang) Interaktionsterme der Erklärungsfaktoren mit dem Zeitpunkt aufgenommen. Im Vergleich über die Zeit wird für die Indikatoren einer patriotischen Grundhaltung dabei offenkundig, dass ihre Einflussstärken mit Beginn der Wirtschaftskrise bei leichten Tendenzen nach unten auf ähnlichem Niveau wie im Jahr 2006 verbleiben und damit keine Reaktion auf die veränderten Rahmenbedingungen zeigen.

Ein ethnisch-kulturelles Verständnis nationaler Identität äußert sich im Zusammenhang mit europäischer Integration in der Regel in Ängsten um den Verlust nationaler kultureller Identitäten. Daher verwundert es wenig, dass für Personen mit derartigen Befürchtungen die politische Unterstützung der EU in allen Untersuchungsländern dramatisch einbricht, wie in Hypothese 2 postuliert. Die Wahrscheinlichkeit, die EU politisch zu befürworten, liegt bei Personen mit derartigen Ängsten im Vergleich zu Personen, die diese Furcht nicht teilen, um siebzehn (2006) bzw. zwanzig Prozentpunkte (2009) niedriger. Damit stellt diese Identitätskomponente einen vergleichsweise starken Effekt im Modell dar und es zeigt sich eindrucksvoll, dass ethnischer Nationalismus und antieuropäische Überzeugungen einhergehen (Hooghe und Marks 2008, S. 201). Über den betrachteten Zeitverlauf hinweg steigen die Einflüsse der Furcht vor kulturellem Identitätsverlust dabei leicht um knapp vier Prozentpunkte an. Da die Unterschiede allerdings nicht signifikant von Null verschieden sind, sollte an dieser Stelle nicht von einem durch Eliten rechtsgerichteter Parteien ausgelösten Aktivierungseffekt ausgegangen werden. In diesem Zusammenhang ist jedoch der positive Effekt der Parteisignale von Interesse, der 2006 zunächst noch ausbleibt und sich 2009 einstellt. Auf diesen wird im Abschn. 4.2 näher eingegangen. Für die beiden Erscheinungsformen nationaler Identität kann somit festgehalten werden, dass ihre Einflussstärken trotz massiver Kontextveränderungen konstant bleiben. Dieser Eindruck wird auch anhand der stabilen Häufigkeitsverteilungen der Indikatoren deutlich. Da es sich bei Identitäten um langfristige Bestandteile der Psyche handelt, vermag dies kaum zu verwundern.

Einen ebenfalls substanziellen Einfluss auf die politische Unterstützung der EU übt die individuelle Stärke der europäischen Identität aus. Personen ohne ein europäisches Zugehörigkeitsgefühl haben im Vergleich zu Menschen, die über multiple Identitäten verfügen, wie erwartet eine bedeutend geringere Wahrscheinlichkeit, die EU-Mitgliedschaft zu befürworten. Damit erweist sich die Existenz einer europäischen Identifikation bei den Bürgern als eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, die EU politisch zu befürworten14. Verfügen Individuen über multiple Identitäten, so wird die Unterteilung in Eigen- und Fremdgruppen weniger salient und die Diskriminierung von Fremdgruppen schwächt sich ab. Eine Betrachtung der nationalen Eigengruppe und der Fremdgruppen als Konkurrenten findet nicht statt, da die europäische Ebene das relevante Abstraktionsniveau darstellt und somit außereuropäische Gruppen als Fremdgruppen herangezogen werden. Die in Hypothese 4 formulierte Vermutung, dass europäische Identität als Ausdruck des Einvernehmens der Bürger interpretiert werden kann, Kompetenzen auf die supranationale Ebene zu verlagern, scheint sich angesichts der Ergebnisse durchaus zu bestätigen.

Für den Verlauf der Wirtschafts- und Schuldenkrise wurden in Hypothese 5 theoretisch sinkende Einflüsse europäischer Identitäten prognostiziert, da sie einerseits durch eine mögliche sinkende utilitaristische Unterstützung und eine ausbleibende positive Eigengruppenbewertung, die nach der Theorie der Sozialen Identität vom Individuum stets angestrebt wird, langfristig aufgeweicht werden. Bis auf geringfügige temporäre Schwankungen, die jedoch angesichts der Ergebnisse der Interaktionsterme auch zufällig zustande gekommen sein könnten, sind jedoch keine Veränderungen der Einflussstärken im Zeitverlauf erkennbar. Allerdings sollte genau wie bei der Wirkung nationaler Identitäten bedacht werden, dass ausbleibende Veränderungen in den Effektstärken möglicherweise auch auf den Wechsel der Indikatoren zurückzuführen sein könnten. Die relativen Häufigkeiten für europäische Identitäten (siehe Tab. 1) zeugen von einer deutlichen Zunahme der Anteile der Personen, die vorgeben, sich mit Europa zu identifizieren, wobei dies allein die Schwankungen der Effektstärken nicht zu erklären vermag.

Schließlich soll noch auf die Resultate für die Stärke nationaler Identitäten eingegangen werden. Wie in den theoretischen Überlegungen bereits angedeutet, kann das Verhältnis zwischen nationalen Identitäten und der Unterstützung der EU je nach Kontextbeschaffenheit verschiedene Formen annehmen. Dies zeigt sich auch in den empirischen Ergebnissen. Für den ersten Messpunkt ergibt sich kein Effekt, 2009 ist der Koeffizient positiv. Insgesamt entsteht damit für beide Zeitpunkte der Eindruck der Kompatibilität nationaler Identitäten mit politischer Unterstützung der EU. Damit sind nationale und europäische Identitäten nicht als Nullsummenspiel zu verstehen, bei dem ein Zuwachs der einen eine Reduzierung der Stärke der anderen Identität zur Folge hätte. Es scheint damit so, als würde das Nationale nicht aufgegeben, sondern neben das Europäische treten (Beichelt 2009, S. 164).

Aussagen zu den Einflüssen nationaler Identitäten im Zeitverlauf sind auch an dieser Stelle nur unter Vorbehalt möglich. Die Konstruktion der Indikatoren für Identitäten in den Eurobarometer-Daten, die zwischen den Befragungszeitpunkten immer wieder variieren, lässt keinen sicheren Schluss darüber zu. Ungeachtet dessen zeigt sich entsprechend Hypothese 3 in den Ergebnissen ein Bedeutungszugewinn nationaler Identität. Der für 2009 positive Effekt könnte damit als Ausdruck verstärkter europafreundlicher Elitensignale gewertet werden.

Hinsichtlich der Fragestellung lässt sich konstatieren, dass mit Ausnahme nationaler Identitäten für keine der Identitätsvariablen substanzielle Veränderungen in der Wirkungsstärke festzustellen sind. Mögliche Gründe dafür könnten zum einen darin liegen, dass der zweite Untersuchungszeitpunkt zu früh gewählt wurde, damit bereits Einflüsse der Wirtschaftskrise bemerkbar sind. Andererseits könnte der Indikatorwechsel in den EB-Daten etwaige Veränderungen neutralisiert haben.

 
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