Fazit

Ziel des Artikels ist es, die theoretisch fundierte Erwartung eines Legitimitätsdefizits und Demokratiedefizits der EU in der Wahrnehmung der befragten Studierenden empirisch nachzuweisen und mit der Wahrnehmung der Legitimitätsproblematik der EU der politischen Eliten zu vergleichen. Gleichzeitig hatte der Artikel das Ziel, die Repertory Grid-Methode als Schnittstelle zwischen qualitativer und quantitativer Forschung sowie als Schnittstelle zwischen empirischer Legitimationsforschung als „Messen“ und als „Beurteilen“ zu präsentieren.

Repertory Grid, als Mixed model-Design, greift auf die Vorteile sowohl qualitativer als auch quantitativer Methoden zurück und vermindert in der Kombination beider Ansätze deren jeweiligen Nachteile. Erstens schwächt Repertory Grid die Phänomene der sozialen Erwünschtheit und des Lippenbekenntnisses ab, indem das Interview selbst unmittelbar in den individuellen Wertekontext des Befragten eingebettet ist. Damit werden Einsichten in die Komplexität der individuellen Bewertungssysteme der Befragten möglich. Zweitens wird der Effekt der sprachlichen und kulturellen Äquivalenz gemindert, indem die subjektiven Bewertungen der Befragten auf ihren jeweils eigenen Evaluationsbzw. Ranking-Konstrukten basieren. Dadurch wird es möglich, das unterschiedliche Verständnis der Worte und Begriffe18, die während des Interviews verwendet werden, zu verstehen. Drittens können die qualitativen Daten des Repertory Grid-Interviews standardisiert werden, so dass die individuellen Daten aggregiert werden können und damit, bei entsprechend repräsentativer Auswahl, ein Vergleich, zum Beispiel auf Länderebene, möglich wird, ebenso wie eine Übertragbarkeit von der Stichprobe auf eine größere Gruppe. Der hohe Zeit- und Kostenaufwand, verglichen mit standardisierten Umfragen, schränkt jedoch die Umsetzungsmöglichkeiten ein. Denkbar wäre jedoch die Analyse von wenigen besonderen Fällen, z. B. ein Vergleich von typischen Fällen einer Large-N-Analyse und Ausreißern oder einzelnen Befragtengruppen aus einer Large-N-Analyse von besonderer Relevanz in Bezug auf die jeweilige Forschungsfrage, z. B. die politischen Eliten eines oder mehrerer Länder in der Logik eines Nested analysis-Ansatzes (Lieberman 2005). Repertory Grid eröffnet viertens Einsichten in die Bedeutung abstrakter Konzepte, Normen und Werte von Menschen. Wenn wir verstehen, was sich hinter dem Begriff Legitimität verbirgt, können wir nicht nur vielschichtigere Ergebnisse auf die Frage nach der Legitimität der EU erzielen, sondern auch besser zwischen ganz unterschiedlichen Gruppen vergleichen. Und schließlich kann Repertory Grid fünftens zwischen den Analysemodellen der empirischen Legitimitätsforschung als „Messen“ oder als „Beurteilen“ vermitteln. Wenn es bei der empirischen Legitimitätsforschung darum geht, nicht nur die Akzeptanz der politischen Ordnung zu messen, sondern auch darum, inwieweit die Herrschaftspraktiken mit den normativen Grundprinzipien einer Gesellschaft übereinstimmen, und diese Übereinstimmung nicht extern vom Forscher beurteilt wird, sondern vom Befragten selbst, müssen beide Analyseschritte in der Erhebungsmethode miteinander verwoben sein. Repertory Grid misst einerseits die normativen Grundprinzipien der Befragten über die Charakterisierung (Konstrukte), die der Idealvorstellung eines legitimen Entscheidungsträgers zugeschrieben werden. Die Konstrukte sind Ausdruck der normativen Grundprinzipien. Auf der Basis dieser Grundprinzipien drücken die Befragten durch die Anordnung der Institutionen (Elemente) andererseits ihre Zustimmung oder Ablehnung zur Herrschaftspraxis aus (Zuordnung des Elements „Legitimster Entscheidungsträger“) und drücken ebenfalls aus, inwieweit die Herrschaftsordnung/-praxis, verkörpert durch die Institutionen (Elemente), mit ihren normativen Grundprinzipien („Legitimster Entscheidungsträger“) übereinstimmt.

Entgegen der Praxis standardisierter Umfrageforschung von einem homogenen Verständnis des Legitimitätsbegriffs auszugehen, hat sich mittels Repertory GridInterviews bereits in einem sehr kleinen und in sich homogenen Sample nachweisen lassen, dass der Legitimitätsbegriff sehr heterogen ist. Die geäußerte Vermutung, in der normativen Ausrichtung und homogenen Verwendung von Begriffen in standardisierten Umfragen könnte die Ursache zu den dargestellten Widersprüchen zwischen empirischen Ergebnissen und theoretischer Forschung zur EU-Legitimität liegen, hat sich verstärkt. Die einzigen kollektiv geteilten normativen Grundprinzipien, die für zumindest 1/3 der Befragten hinter dem Legitimitätsbegriff stehen, sind die Kriterien „gewählt“ und „unabhängig“.

So hat sich mit den gewonnenen Daten, auch im Gegensatz zu den bereits existierenden Umfragedaten, nachweisen lassen, dass zumindest aus der Perspektive der hier Befragten ein Legitimitätsproblem der EU wahrgenommen wird. Sowohl die nationalen Institutionen als auch die europäischen Institutionen entsprechen nicht den Idealvorstellungen der Befragten von einem legitimen Entscheidungsträger. Die wahrgenommene Herrschaftsordnung der nationalen und europäischen Institutionen und die normativen Grundprinzipien der Befragten stimmen also nicht überein. Diese fehlende Übereinstimmung kann als ablehnende Haltung der Befragten gegenüber einer Politik des Delegierens interpretiert werden. Gleichzeit kommen die nationalen Institutionen den Vorstellungen von Legitimität näher als die europäischen Institutionen, so dass von einer spezifischen Delegitimationsproblematik der EU ausgegangen werden kann. Am weitesten entfernt von den Legitimitätsvorstellungen der Befragten sind die Expertengremien als ernannte, nicht gewählte Akteure[1]. Die Abkehr von gewählten Akteuren steht im Gegensatz dazu in der Referenzstudie (Barnickel et al. 2012) als ideale Strategie der politischen Eliten zur Herstellung anerkennenswürdiger Entscheidungen. Ebenso weit von den Legitimitätsvorstellungen der Befragten entfernt ist die Europäische Zentralbank, die von den politischen Eliten, im Gegensatz zu den Befragten, wegen ihrer Unabhängigkeit von der Politik geschätzt wird (Barnickel et al. 2012, S. 214). Damit ergibt sich ein Spannungsverhältnis in der Wahrnehmung der Legitimitätsproblematik zwischen politischen Akteuren und der Befragtenperspektive. Im Gegensatz zur Annahme der politischen Eliten haben die analysierten Daten gezeigt, dass aus der Befragtenperspektive die Wahl weiterhin ein entscheidendes Kriterium bei der Frage nach Legitimität bleibt. Kurzum gibt es im Vergleich der beiden Positionen Hinweise auf einen Gap zwischen einem eher technokratischen Legitimitätsmodell auf Seiten der politischen Eliten und einem demokratischen Legitimationsmodell auf Seiten der befragten Studierenden.

Wenn theoretisch davon ausgegangen wird, die Ergebnisse wären in ihrer Tendenz auf ein repräsentatives Sample übertragbar, welche Konsequenzen hätte dieser Gap im Legitimitätsverständnis von Eliten und Befragten vor dem Hintergrund der Bedeutung der Kongruenz der politischen Kultur der Bürger und der Eliten für die Systemstabilität? Nach Easton (1965) kann Systemstabilität erzeugt werden, indem die diffuse Unterstützung für die politische Gemeinschaft oder Regime erzeugt wird, insbesondere durch die Herstellung von Identifikation der Bürger mit der politischen Gemeinschaft bzw. dem Regime.

Kann es eine Identifikation mit der politischen Gemeinschaft oder dem Regime geben, wenn die Einstellung und Wahrnehmung zur Herstellung von Legitimität zwischen Bürgern (Wählern) und politischer Elite (Politiker) so differiert, wenn die einen ihre Entscheidungen mehr und mehr in die Hände von Expertengremien und anderen nicht gewählten Institutionen geben, während die anderen sich transparente Entscheidungen von gewählten und unabhängigen Akteuren wünschen?

Eine positive Responsivitätswahrnehmung, wie Geißel (2004, S. 1240) sie in Anlehnung an Easton (1965) formuliert, ist bei der gezeigten Inkongruenz der politischen Kultur der Befragten und Eliten jedenfalls fraglich und die politische Unterstützung und vielleicht die Stabilität in Gefahr. Möglicherweise verstärkt dieser Mechanismus auch das Demokratiedefizit der EU. Die politischen Akteure sehen angesichts der Komplexität der Entscheidungen und der mangelhaften Institutionalisierung der EU scheinbar keinen anderen Weg als die Abkehr von (langsamen) demokratischen Institutionen, während die Befragten Legitimität nur durch Transparenz und direkte Partizipation gewährleistet sehen.

Die These vom Zusammenhang von Demokratiedefizit und Legitimationsproblematik der EU (Blondel et al. 1998; Katz und Weßels 1999; Kielmannsegg 1996; Scharpf 1999; Thomassen und Schmidt 1999), die Fuchs (2003) nicht hat empirisch nachweisen können, sollte auf Grund der Erkenntnisse der erhobenen Repertory Grid-Daten empirisch weiter verfolgt werden, da bereits in diesem kleinen Sample Hinweise auf einen solchen Zusammenhang deutlich geworden sind. Die Bedeutung von systemischer Performanz für die Legitimität der EU, im Sinne der Verwirklichung ökonomischer Interessen und der Leistungsfähigkeit der EU, wie Fuchs (2003) sie gefunden hat, spiegelt die vorliegenden Erhebung nicht wider. Auch dieser Punkt sollte mit einem größeren Sample geprüft werden.

Die Ergebnisse sind für die vorgestellte Fallstudie eindeutig, auf Grund der geringen Fallzahl sind sie jedoch nicht verallgemeinerbar. Die These einer noch viel distanzierteren und ablehnenderen Haltung gegenüber europäischen Institutionen der Gesamtgesellschaft, als für die gebildete, politisch interessierte und informierte, international vernetzte Gruppe der Studierenden gezeigt werden konnte, mittels Repertory Grid-Interviews auch anderer Gesellschaftsgruppen in einem repräsentativen Sample zu prüfen, könnte Gegenstand weiterer Forschung sein, die im Sinne des Nested analyses-Ansatzes (Lieberman 2005) Einzelaspekte von Large-N-Analysen vertiefen könnte. Die Thesen, die auf der Basis der vorliegenden Daten entwickelt wurden bzw. auf die es erste Hinweise gibt, weisen insgesamt jedoch zukünftiger Forschungsarbeit die Richtung.

Die anhaltende Bedeutung von Wahlen für die Herstellung von Legitimität, auf die es in diesem Beitrag Hinweise gibt, dürfte für die Wahlen zum Europaparlament eine gute Nachricht sein, ebenso, dass das Europäische Parlament unter den europäischen Institutionen den Idealvorstellungen von Legitimität am nächsten kommt. Dennoch ist die Wahlbeteiligung an Europawahlen kontinuierlich rückläufig. Sie lag bei den letzten Wahlen im Jahr 2009 nur noch bei 43 % (Europäisches Parlament o.J.). Das Desinteresse an den Europawahlen ist m. E. jedoch nicht ein Zeichen für die Ablehnung europäischer Institutionen, sondern einer Politikverdrossenheit, die auf dem Demokratiedefizit der EU gründet. Schmitt und van der Eijk (2003) führen die sinkende Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament darauf zurück, dass selbst diejenigen, die sich in der Vergangenheit regelmäßig an Wahlen zum Europäischen Parlament beteiligt haben, den Wahlen fern bleiben, da sie diese als politisch „folgenlos“ einstufen (Schmitt und van der Eijk 2003). Denn auch wenn, wie in Europa im Jahr 2014 Wahlen abgehalten werden, scheint es, wie Crouch (2008) pessimistisch urteilt, dass die reale Politik im Schatten dieser Inszenierung „hinter verschlossenen Türen gemacht“ wird (Crouch 2008, S. 10).

  • [1] Auf Grund des kleinen Samples zwar nicht repräsentativ, ist es dennoch eine höchst spannende Randbemerkung wert, dass einzig bei den Befragten mit der Parteipräferenz CDU sich diese Bewertung genau umgekehrt verhält. Die CDU-nahen Befragten bewerten „Expertengremien“ und den „legitimsten Entscheidungsträger“ als sehr ähnlich. Möglicherweise stimmen Bürger mit der Parteipräferenz CDU und die politischen Eliten in ihrem technokratischen Legitimitätsverständnis überein.
 
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