Religiöse Lern- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen und deren Bedeutung für die gesamte Lebensspanne

Die erziehungswissenschaftliche Forschung setzt ihren Schwerpunkt in der Untersuchung von geistig-religiöser Entwicklung im Bereich der institutionalisierten Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche, d.h. beginnend mit Kindergarten bis in die weiterführenden Schulformen hinein. Es gibt zudem Fragestellungen hinsichtlich eines adäquaten Erziehungsangebotes in der Familie und im kirchlichen Kontext. Die geistig-religiöse Entwicklung ist jedoch immer weniger institutionell eingebunden und Religiosität wird zunehmend im Privaten und individualisiert gelebt. Hier bildet sich eine weitere Forschungslücke mit historisch nachzuvollziehende Berührungsängsten [1], die ich mit meiner Arbeit aufgreife. Friedrich Schweitzer fasst das vorliegende Forschungsdesiderat zusammen, in dem er formuliert: „So fehlt es heute in Wissenschaft und Politik, aber auch in öffentlichen Bildungseinrichtungen wie dem Kindergarten bereits an elementaren Daten zu Religion und religiöser Erziehung in der Familie“ (Schweitzer, 2008, S. 26). Ein Fokus bzgl. der Auswertung der empirischen Daten wird daher auf die religiösen Kindheitsund Jugenderfahrungen der interviewten Frauen gelegt.

Inhaltlicher Aufbau dieser Arbeit

Im Anschluss an diese Einführung, die ein erstes Verständnis der Fragestellungen vermittelt, sowie grundlegende Begrifflichkeiten bespricht, ist ein theoretischer Teil angelegt.

Dieser beginnt mit der Auseinandersetzung zur umfassenden Thematik der Identitätsentwicklung. Dabei gehe ich nach einem allgemeinen Zugang zum Verständnis dessen, was Identität und ihre Entwicklung und lebenslange Dynamik meint, auf das Konzept von Erik H. Erikson ein als grundlegender Theorie zur Identitätsentwicklung. Eine dazu kritische Positionierung folgt. Das Konzept Eriksons bezieht konstitutiv für den Prozess der Identitätsbildung Religiosität mit ein, was im Rahmen dieser Arbeit wesentlich ist. Ebenso wird in Eriksons Konzept der Prozesscharakter d. h., die ständige, über die gesamte Lebensspanne zu leistende Erarbeitung eines neuen Gleichgewichts zum Aufbau einer ‚Selbstigkeit' oder einer Ich-Haftigkeit, einbezogen, die sowohl als stetig als auch über eine Zeitspanne als veränderlich wahrgenommen und beschrieben werden kann. Peter Alheit konstatiert, dass im Gegenzug „statische Konzepte von Identität überholt“ (Alheit, 2010, S. 231) seien. Der Anspruch in der Postmoderne an Menschen sei, dass sie ihre Identität „gerade auch mit Rücksicht auf biographische Brüche immer wie neu“ herstellen müssen. Diese sei dann ein „Resultat ‚biographischer Arbeit', eine Art ‚Selbstbildungsprozess', der zunehmend den Individuen spätmoderner Gesellschaften zugemutet und auferlegt wird“ (ebd.). Was Erikson in seinem theoretischen Modell jedoch nicht berücksichtigt, ist die Beschreibung des Prozesses der Identitätsbildung (vgl. Kraus/Mitzscherlich, 1997, S. 150). Deshalb möchte ich ein weiteres theoretisches Modell zur Identitätsbildung vorstellen, das diese Prozesshaftigkeit im Individuum beinhaltet. Dabei handelt es sich um ein erst in den letzten Jahren aus der psychotherapeutischen Praxisforschung entstandenes Konzept zur Identitätsentwicklung, das die Bedeutung der sozialen Beziehungen hervorhebt. Es ist das das ‚Tridentitäts'Modell und wurde von Gabriele Frick-Baer und Udo Baer (1996, 1999, 2001) entwickelt. Einen weiteren Schwerpunkt dieses Konzepts bildet der Zugang zum Menschen als ein von Beginn seines Lebens grundsätzlich aktives und kompetentes Wesen in seiner Gestaltung von Beziehungen.

Weiterführend öffne ich den Blick auf die Situation in der Postmoderne und auf die speziellen Anforderungen an die Identitätsentwicklung, die sie an die Menschen stellt. Dazu gibt Friedrich Schweitzers Weiterentwicklung des Erikson'schen Identitäts-Konzepts Hinweise. Des Weiteren geht es um die Verknüpfung von Identität und Religiosität in der Postmoderne. Auch hier werden neben der religiösen Sozialisation und Entwicklung Aspekte von Erikson aufgegriffen. Den Bezug zur weiblichen Identität(-sentwicklung) greife ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels auf, in dem ich auf die Bedeutung des Geschlechts für die Identitätsentwicklung eingehe und auf die Verknüpfung von Frauen und Religiosität in der Postmoderne.

Eingefügt ist ein Exkurs zur Thematik der interkulturellen Kompetenz und ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Gesamtsituation auch in zukünftiger Hinsicht.

Es folgt eine Bearbeitung des Konzepts der narrativen Identität. Dieses bietet sich sowohl als theoretische Folie wie als methodisches Element an, um zum einen autobiographische Stegreiferzählungen als identitätsstiftenden Prozess zu sehen und zu verstehen, und zum anderen, um die narrativen Interviews mit entsprechenden Methoden analysieren zu können (z.B. ‚Positionierungen' im methodischen Teil). Hier geht es um die Bedeutung des Erinnerns für die Rekonstruktion der Lebensgeschichte genauso wie um den Einfluss der Interviewsituation auf die Erzählerin und deren Erzählung. Auch das Gewicht, das Narrativität gerade für die Religiosität hat, wird besprochen und die Bedürfnisse nach Sinn und Kohärenz der Menschen, welche diese durch die Rekonstruktion der Biographie immer wieder neu konstituieren und bestätigen.

Die Bedeutung von Lernen und Bildungsprozessen für die Identitätsentwicklung, die sich über die gesamte Lebensspanne hinzieht, wird im folgenden Kapitel erörtert. Zugänge zum Lernen und zum Verständnis von religiösem Lernen werden vorgestellt. Zudem werden die Unterschiede zwischen Lernund Bildungsprozessen herausgearbeitet und differenziert in der strukturalen Bildungstheorie, die Winfried Marotzki entwickelt hat, vorgestellt. Abschnitte, die sich speziell mit geistig-religiöser Bildung allgemein und den Zugängen von Frauen zu religiösen Bildungsmöglichkeiten sowie ihrer Stellung in der Gesellschaft beschäftigen, schließen sich an.

Den theoretischen Teil schließt ein Exkurs zur Entwicklung des Buddhismus in Deutschland ab. Dieser nimmt ausführlich Bezug zu Frauen im Buddhismus hierzulande.

Ein Abschnitt zu methodischen Überlegungen führt auf den empirischen Teil hin. Darin stelle ich zunächst drei Einzelfälle vor. Im Ergebnisteil greife ich die Aspekte Religiosität in Kindheit und Jugend, die Bedeutung des weiblichen Geschlechts für die religiöse Entwicklung sowie die Bedeutung von Religiosität für die Bewältigung von kritischen Lebenserfahrungen auf.

Eine Zusammenfassung und ein Ausblick für weitere Forschungsansätze schließen diese Arbeit ab.

Für einen angenehmen Lesefluss verwende ich in der Regel die weibliche Form, da es sich um eine Arbeit handelt, die sich mit den Biographien von Frauen auseinandersetzt. Dort, wo beide Geschlechter gemeint sind, differenziere ich entweder, wo es sinnvoll ist oder ziehe überwiegend durch Kennzeichnung beide Geschlechter in einem Wort zusammen.

  • [1] Vgl. Walach, Harald (2010): Spiritualität und Wissenschaft. In: Hüther, Gerald/Roth, Wolfgang/ von Brück, Michael (Hg.): Damit das Denken Sinn bekommt. Spiritualität, Vernunft und Selbsterkenntnis. 4. Auflage, Freiburg im Breisgau, S. 77-96
 
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