Theorie
Identitätsentwicklung
Grundsätzliches Verständnis
Obwohl oder gerade weil es zur Identitätsforschung vielfältige Untersuchungen mit einem ebenso breiten Erkenntnisspektrum gibt, in denen die Fragen danach, was Identität ist, wie sie sich entwickelt, ob eine Person sich aus einer oder mehreren Identitäten zusammensetzt, was an Identität sozusagen fix ist und was sich verändert und wie Identität sich in der Spannungsfeld zwischen der einzelnen Persönlichkeit und dem sozialen Umfeld konstituiert (vgl. Petzold, 2012, S. 9f), versucht werden zu beantworten, kommt Gisela Steins zu folgendem Schluss:
„Die wissenschaftlichen (…) Antworten unterscheiden sich beträchtlich hinsichtlich der Dimensionen Permanenz und Veränderung sowie Einheit und Verschiedenartigkeit von Identität. Das Beste, was in Hinblick auf die Erkenntnis von Identität erreicht werden kann, scheint eine Reflexion zu sein, eine andauernde Suche nach einer Wahrheit, die möglicherweise nicht endgültig oder vollständig erfasst werden kann. Es erscheint mir daher notwendig, Zweifel und Unsicherheit an eigenen Identitätsauffassungen zu entwickeln“ (Steins, 2008, S. 28).
Gisela Steins weist auf die Heterogenität der Konzepte zu Identitätsbildungsprozessen in der Wissenschaft hin und beantwortet dies damit, einen offenen Zugang zu wählen, der Vielfalt zulässt, die dem Menschen in seiner Lebendigkeit mehr entsprechen mag als eine Diskussion über ‚das falsche' bzw. ‚das richtige' Konzept und den Versuch, menschliche Entwicklung in eine solche Folie hinein zu pressen. Damit drückt sie das aus, was im aktuellen Diskurs um die Frage, was Identität sei bzw. ob der Begriff überhaupt noch zeitgemäß sei, eine durchaus weit verbreitete Position ist.
Im Hinblick auf die Diskussion, ob der Begriff der Identität an sich überhaupt noch adäquat in der heutigen Zeit ist, weisen einige AutorInnen darauf hin, dass sich hinter dieser Fragestellung eine ganz andere verberge, nämlich die nach dem Ringen um Autonomie bzw. um die Balancierung der Pole Autonomie und Abhängigkeit bzw. Unterwerfung (vgl. Straub / Renn, Quante, 2002).
Da ich mich entschieden habe, das Konzept ‚Identität' für diese Arbeit zu verwenden, weil ich es als Grundlage zum Verständnis von biographischer und persönlicher Entwicklung von Menschen als hilfreich empfinde, möchte ich im Folgenden einige Denkrichtungen vorstellen, die Essenzen dessen vermitteln, worum es in der Postmoderne in Bezug auf Fragen rund um Identitätsentwicklung geht.
Heiner Keupp hat mit seinem Team bereits 1999 für den Untertitel einer umfassenden Untersuchung zur Identitätsentwicklung bei jungen Erwachsenen die Formulierung „Patchwork der Identitäten“ gewählt, die auf großen Anklang gestoßen ist (vgl. Keupp u.a., 1999, S. 294) und die obige Beschreibung von Gisela Steins sinngemäß kurz zusammenfasst. Identitätsarbeit bedeutet nicht mehr, so äußert sich Keupp noch 10 Jahre später, im Großen und Ganzen als Erwachsener die Frage ‚wer bin ich?' abschließend beantworten zu können, sondern
„die Arbeit an der eigenen Identität wird zu einem unabschließbaren, lebenslang andauernden und sich fortsetzenden Projekt. Fertige soziale Schnittmuster für die alltägliche Lebensführung verlieren ihren Gebrauchswert. Sowohl die individuelle Identitätsarbeit als auch die Herstellung von gemeinschaftlich tragfähigen Lebensmodellen unter Menschen, die in ihrer Lebenswelt aufeinander angewiesen sind, erfordert ein eigenständiges Verknüpfen von Fragmenten. Bewährte kulturelle Modelle gibt es dafür immer weniger. Die roten Fäden für die Stimmigkeit unserer inneren Welten zu spinnen wird ebenso zur Eigenleistung der Subjekte wie die Herstellung lebbarer Alltagswelten. Menschen in der Gegenwart brauchen die dazu erforderlichen Lebenskompetenzen in einem sehr viel höheren Maße als die Generationen vor ihnen“ (Keupp, 2010, S. 7).
Bereits in dem oben genannten Projekt, 10 Jahre zuvor, arbeiteten Keupp u.a. heraus, dass für die Identitätsarbeit die Qualitäten Kohärenz und Anerkennung wesentlich sind. D.h. zum einen geht es für die Menschen darum, Zusammenhänge und Zusammenhängendes, Verbindungen und Verbindendes zu finden. Zum anderen geht es darum, Anerkennung im Sinne von Zugehörigkeit und eines stabilen sozialen Netzes zu finden. Diese Anerkennung muss erarbeitet werden, sie ist eine Eigenleistung des Subjekts.
Als Pionier zur Herausarbeitung dieser Qualitäten und Zusammenhänge für eine gelingende Identitätsentwicklung ist George Herbert Mead zu nennen, der die theoretischen Grundlagen zum symbolischen Interaktionismus entwickelt hat. [1]
Für Lothar Krappmann gilt es vier Qualitäten zu entwickeln, die für die Identitätsbildung wesentlich sind. Als erstes nennt er die Fähigkeit, sich der Übernahme von Rollen bzw. sich des Handelns in und aus einer Rolle bewusst zu sein und sich davon distanzieren zu können. In der Abgrenzung von den Rollen kann eine Ich-Identität entwickelt werden. Der zweite Faktor ist Empathie als kognitive Fähigkeit. Dabei geht es darum, Erwartungen eines Gegenübers wahrnehmen und übernehmen zu können. Die dritte Qualität ist die Ambiguitätstoleranz. Damit ist die Kompetenz der psychischen Verarbeitung von externen, zum Teil widersprüchlichen oder sich widersprechenden Erwartungen an eine Person gemeint. Viertens benennt er die Identitätsdarstellung. D.h. es ist einer Person möglich, die übernommene Rolle symbolisch über Sprache, Mimik, Gestik u.ä. auszudrücken (vgl. Krappmann, 1969, S. 132-155).
Hilarion Petzold weist zudem darauf hin, dass die „transversale Moderne“ (Petzold, 2012, S. 12) geprägt ist von einer
„Umbruchsdynamik“ (ebd.), in der von den Menschen „massive Veränderungsleistungen gefordert werden: als aktuelle Bewältigungsleistungen (coping) oder als ‚Entwicklungsaufgaben', die das Ausbilden von neuen ‚Identitätsstilen' (creating) erforderlich machen“ (ebd., Hervorh. i. Orig.).
Seiner Einschätzung nach sind die
„sozialen Zusammenhänge und Lebenslagen [sind] heute vielfach prekäre ‚Identitätsmatrizen' geworden, unter anderem auch, weil viele Menschen in ihren Sozialisationen nicht adäquat ausgestattet wurden, ihre Identitätsarbeit unter diesen veränderten Bedingungen erfolgreich zu leisten, Identitätskrisen zu meistern und Identitätsprojekte zu realisieren. In akzelerierten und globalisierten, postmodernen Veränderungsdynamiken sind die Prozesse der Identitätskonstruktion prekär geworden (ebd., S. 12f.; Hervorh.
i. Orig.).
Petzold sieht, dass die Verantwortung für die oft eher kritisch verlaufende Identitätsarbeit im Schwerpunkt dem Individuum zugemutet wird, was aus seiner Sicht jedoch eine Fehlleistung ist, da es sich letztlich um gesellschaftliche und damit auch um politische Fragen handelt, die nur auf dieser Ebene adäquat zu beantworten sind. Dazu noch einmal Petzold selbst:
„Man verbleibt offenbar lieber bei vermeintlich individualisierbaren Lösungen für Probleme, die indes weitgehend im kollektiven Raum zu verorten sind und deshalb po-
dieser Schule wesentlich für die Identitätsentwicklung `signifikante Andere´; diese kennzeichnet eine bestehende emotionale Beziehung, kontinuierliche Interaktion sowie eine Machtposition. Schon im `symbolischen Interaktionismus´ wird vertreten, dass Identitätsentwicklung ein lebenslanger Prozess ist, der von den Menschen gestaltet und verantwortet wird, allerdings immer in Kommunikation mit der Gesellschaft, in der sie leben.
litisch verantwortliches Handeln erforderlich machen würde, um die Fragen nach der Humanität, Freiheit und Gerechtigkeit, der Repressivität und Unmenschlichkeit von Gesellschaften bewusst und aktiv anzugehen und verantwortlich mit zu gestalten“ (ebd. S. 15).
Bernadette Müller schlägt die Differenzierung von zehn „sozialen Teil-Identitäten“ (Müller, 2011, S. 17) vor, in denen die Trennung von individueller Identität und gesellschaftlichen Einflüssen aufgehoben ist. Sie geht davon aus, dass sich systemische Faktoren in jeder Person abbilden und Einfluss nehmen auf die Identitätsentwicklung. Sie benennt als soziale Teil-Identitäten folgende Bereiche: Familie, Beruf, Nationalität, Ethnie, Politik, Region, Religion, Schicht, Geschlecht und Alter (vgl. ebd.).
Michael Buchholz äußert sich in der Weise, dass eine „Verschiebung des theoretischen Bezugssystems von der individuellen ‚Tiefe' zur interpersonellen Bezogenheit“ (Buchholz, 2012, S. 325) stattgefunden hat, in deren Folge „Identität ( ) vielmehr prozessual in lokalen Interaktionen generiert“ (ebd.) wird. Es gibt jedoch auch „an der täglichen Oberfläche der Mikrostruktur unserer Interaktionen und Konversationen“ (ebd.) Bestätigungen von Identität. Buchholz spricht hier von „beobachtbarer Geschichte“, die „unbewusst verläuft und den Selbstaufbau bestimmt“ (ebd.).
- [1] George H. Mead (1863-1931), Sozialphilosoph und Sozialpsychologe. Sein Schüler Herbert Blumer (1900-1987) entwickelte aus Meads theoretischen Annahmen die Schule des `symbolischen Interaktionismus´. Darin wird postuliert, dass Identitätsentwicklung und Sozialisationsprozesse immer andere Menschen brauchen, es sind somit soziale Prozesse. Über Kommunikation findet Symbolisierung statt, d.h. ein Lernprozess der Bedeutungsbildung. Des weiteren sind in