Identitätsentwicklung über die Lebensspanne

Auf die Frage, wie Identitätsentwicklung über die gesamte Lebensspanne geschieht, möchte ich im Folgenden eingehen. Dazu wähle ich als Vorschlag zur Beschreibung dieses Prozesses das Konzept von Erik H. Erikson, auf das sich nach wie vor viele wesentliche Theorien zur Identitätsentwicklung beziehen bzw. dieses als Grundlage für zeitgemäßere Weiterentwicklungen dient. Erikson bindet Religiosität in seine Theorie ein und dies ist im Zusammenhang mit dieser Untersuchung wesentlich. Aber auch kritische Aspekte in Bezug auf Eriksons Konzept sollen benannt werden. Anschließend wende ich mich der Identitätsentwicklung in der Gegenwart, der Postmoderne, zu. Hier geht es insbesondere um die Veränderungen im Vergleich zur Moderne und um die Frage, wie diese sich auf den Lebenszyklus der Menschen auswirken. Hier werde ich u.a. Bezug nehmen auf ein spezielles Identitätsmodell, das aus der psychotherapeutischen Praxis der tiefenpsychologisch orientierten LeibtherapeutInnen Gabriele FrickBaer und Udo Baer entstanden ist, die in der Tradition von Fritz Pearls, Hilarion Petzold, aber auch von George H. Mead stehen und auf die Hirnund Säuglingsforschung Bezug nehmen.

Das Identitätskonzept von Erik H. Erikson

Erik H. Erikson (1902-1994) emigrierte als deutscher Jude 1933 in die USA. Er hatte sich in Wien zum Psychoanalytiker ausbilden lassen und konzentrierte sich als erster Psychoanalytiker auf die Behandlung von Kinder und Jugendlichen in den USA. Er führte Freuds Phasenmodell der psychischen Entwicklung des Menschen fort und entwickelte es deutlich weiter. Maßgeblich sind hier seine Erkenntnisse dahingehend zu nennen, dass zum einen Persönlichkeitsentwicklung nicht mit dem Kindesalter abgeschlossen und irreversibel ist, sondern die Phasen von Pubertät und Erwachsenenalter weitere, neue Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Zum anderen geht Erikson auf die Einbindung des sozialen Umfeldes und damit auf die Haltung, dass Identitätsentwicklung ein systemischer Prozess ist, an dem andere Menschen aktiv beteiligt sind, ein und anerkennt, dass sich Menschen ein Leben lang entwickeln (vgl. Buchholz, 2012. S. 302). Noch heute gilt Eriksons Ansatz als grundlegend für viele Theorien zur Beschreibung des menschlichen Lebenszyklus.

Erikson hat ein Stufenmodell von acht Entwicklungsphasen mit einem jeweils dominierenden polaren Themenfeld über den gesamten Lebenszyklus entwickelt. Dieses psychosoziale Entwicklungsmodell steht neben seinem Konzept zur Ich-Entwicklung, in dem er formuliert, dass die Ich-Entwicklung in der Adoleszenz in die Identitätsentwicklung mündet. Auf jeder Stufe des lebenslang angelegten psychosozialen Konzepts geht es darum, einen Konflikt zu bewältigen, woraus sich bei einem gelingenden Prozess eine zu dem Thema zugehörige Tugend entwickelt.

Die im ersten Lebensabschnitt, auch als orale Phase benannt, zu bewältigende Anforderung benennt Erikson mit der Polarität von Urvertrauen versus Urmisstrauen. Die zugehörige Tugend ist die Hoffnung.

Die zweite anale Phase fordert die Auseinandersetzung mit dem Konflikt Autonomie versus Scham und Zweifel und fördert die Entwicklung des Willens.

Anschließend in der Phase der infantilen Genitalität geht es um die Herausbildung von Entschlusskraft. Der mit dieser Phase einhergehende Konflikt lautet Initiative versus Schuldgefühl.

Die Latenzperiode, die vierte Phase, fördert durch die Bewältigung der Spannung von Leistung versus Minderwertigkeitsgefühl die Tugend der Kompetenz.

Mit der fünften Phase, der Adoleszenz, ist die Kindheit abgeschlossen. In dieser Entwicklungsperiode geht es um den Konflikt Identität versus Identitätsbzw. Rollenkonfusion. Die zu entwickelnde Stärke ist die Treue.

Das frühe Erwachsenenalter, die sechste Phase, fördert durch die Bewältigung der konflikthaften Spannung zwischen Intimität und Isolierung die Liebe.

Das reife Erwachsenenalter schließlich stellt die Pole Generativität versus Stagnation in den Vordergrund. Die zu bildende Tugend ist die Fürsorge.

In der achten Phase, dem Alter, geht es um Integrität versus Verzweiflung mit der Bildung von Weisheit als zugehörige Tugend.

Die acht Stadien der menschlichen Entwicklung nach Erik Erikson noch einmal zusammengefasst sind:

§ Säuglingsalter: Urvertrauen gegen Misstrauen

§ Kleinkindalter: Autonomie gegen Scham und Zweifel

§ Spielalter: Initiative gegen Schuldgefühle

§ Schulalter: Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl

§ Adoleszenz: Identität gegen Identitätsdiffusion

§ Frühes Erwachsenenalter: Intimität gegen Isolierung

§ Erwachsenenalter: Generativität gegen Selbstabsorption (= unfruchtbare Beschäftigung mit sich selbst)

§ (Spätes) reifes Erwachsenenalter: Integrität gegen Lebensekel.

Identitätsbildung beginnt nach Erikson mit der Adoleszenz. Dieser Prozess stellt die letzte Stufe der Ich-Entwicklung dar und begleitet den Menschen über das gesamte weitere Leben. Unter Identität versteht Erikson

„…sich mit sich selbst – so wie man wächst und sich entwickelt – eins fühlen; und es heißt ferner, mit dem Gefühl einer Gemeinschaft, die mit ihrer Zukunft wie mit ihrer Geschichte (oder Mythologie) im reinen ist, im Einklang zu sein“ (Erikson, 1975, S. 29).

An anderer Stelle pointiert er die Gegenüberstellung der Pole des individuellen und des gesellschaftlichen Aspekts noch klarer und nimmt die Idealisierung, die er in der Formulierung „im Einklang zu sein“ einfließen lässt, heraus und bezeichnet Identität als „sowohl ein dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleich-sein [als auch] ein dauerndes Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen.“ (Erikson in: Sökefeld, 2012, S. 39).

Zur Ich-Entwicklung gehören lt. Erikson weiterhin die Introjektion, das Aufnehmen des Bildes einer Bezugsperson, mit der eine sichere Bindung besteht, sowie die Identifikation. Jedoch führt erst die Identitätsentwicklung zu einer gesunden Persönlichkeit, die Erikson wie folgt beschreibt:

„Die Verbindung von Fähigkeiten, die in ferner Vergangenheit gründen, mit Möglichkeiten, die in der Gegenwart erahnt werden; eine Verbindung von vollkommen unbewussten, im individuellen Wachstum entwickelten Voraussetzungen mit sozialen Bedingungen, die im wechselvollen Spiel der Generationen geschaffen und verändert wurden“ (ebd., 1975, S. 14).

 
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