Die Entwicklung der Identität nach Baer / Frick-Baer

Die Entwicklung der Identität ist für diese AutorInnen ein prozesshaftes soziales Geschehen, in dessen lebenslangem Verlauf ein grundlegendes Empfinden (bei einem gesunden Menschen) von ‚das bin ich' bleibt, ohne dass diese Beschreibung, wenn man diese genauer betrachtet, fortwährend dasselbe meint.

Darüber hinaus meint dieses ‚das bin ich' noch mehr, es meint eine Einzigartigkeit im Sinne von ‚das bin nur ich'. Lebenslange Entwicklung in Bezug auf die eigene Identität bedeutet ebenso, dass diese nicht durch die Kindheit(serfahrungen) endgültig determiniert ist. [1]

Das soziale Umfeld ist für die Entwicklung der Identität eine notwendige Voraussetzung. Dazu gehören neben dem engen sozialen Netz die Gesellschaft und die Kultur (vgl. Baer, 1996). Zur Entwicklung eines stabilen IdentitätsEmpfindens braucht es also immer ein ‚Du', ein Anderes. Und dieses ‚Du' sollte nach Baer / Frick-Baer drei grundlegende Beziehungs-Qualitäten in einer wohlwollenden und respektvollen Weise auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene anbieten: Das Nähren, das Spiegeln und die Qualität des Gegenüber (Tridentitätsmodell). Das Ich selbst benötigt aber auch in seiner eigenen psychischen Struktur diese Qualitäten. Gibt es bei mindestens einem der beiden Beteiligten, also dem Ich oder Du oder in eine der beiden Richtungen Störungen, bedeutet dies eine Störung der Identität. Durch unterschiedliche Methoden im Rahmen dieses Tridentitätsmodells (vgl. Baer/Frick-Baer, 1996) kann die Biographie im Hinblick auf die jeweilige Identitätsentwicklung untersucht werden. Spezifische individuelle Muster und Phänomene können erkannt und benannt werden.

Ebenso gilt es, den sogenannten inneren Ort der Bewertung [2] herauszuarbeiten, der gleichzeitig einen inneren Ort der Sicherheit darstellt. Er ist ein inneres Zentrum, das der jeweilige Mensch als leitend in Fragen nach den eigenen Fähigkeiten, Werten, Bedürfnissen und Grenzen wahrnimmt. Es gibt ein unterscheidendes Wahrnehmen dessen, was davon zum Ich gehört und was zum Du. Diese Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen innen und außen und zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, ist besonders wichtig auch im Hinblick auf die spirituell-religiöse Entwicklung eines Menschen. Hier geht es immer auch um Transzendenz, um Erweiterung der persönlichen Grenzen hin auf etwas die Person Übersteigendes. Nur Menschen mit einer stabilen Ich-Identität vermögen es, hinsichtlich spiritueller, religiöser Erfahrungen diese in ihre Persönlichkeit zu integrieren, ohne psychotisch zu werden. Auch die Entwicklung des inneren Ortes der Bewertung geschieht durch Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen und ist sowohl grundlegend für die Identitätsentwicklung als auch ein Ergebnis derselben. Somit enthalten Lebensgeschichten, die immer das eigene Werden der Identität rückblickend nachvollziehen, durch die Informationen zu sozialen Kontexten, in denen sich der (in den Fällen in dieser Arbeit) erzählende Mensch bewegt bzw. bewegt hat, ebenso Informationen zur qualitativen Entwicklung der Identität. Udo Baer benennt zudem sechs Wirkfaktoren der Veränderung für die Entwicklung von Menschen:

„Die grundlegende Haltung, die gegenüber einem Menschen eingenommen wird, die leibliche Integration bzw. Desintegration, die Resonanz, die Tridentität, also die Interaktion im Nähren, Spiegeln und Gegenüber zwischen Personen und Lebenswelt, die Bedeutungen bzw. Bedeutungsveränderungen sowie die Bewältigungsstrategien von Krisen“ (Baer, 1999, S. 411).

  • [1] Allerdings meint hier Steins, „dass für die Entwicklung der Identität insbesondere zu einem frühen Alter der interaktive Austausch mit einer sozialen Umwelt die absolut notwendige Voraussetzung ist. Werden diese Jahre nicht genutzt, so sind die daraus entstandenen Defizite irreversibel und nur noch `kosmetisch´ zu behandeln“ (Steins, 2008, S. 38).
  • [2] Dieser Begriff wurde von Carl Rogers geprägt. Siehe dazu auch psychologie.uni-wuerzburg.de/i4pages/Tscheulin/Rogers_Begriffe.html#36.%20Ort%20der%20Bewertung, (abgefragt am 22.01.2011).
 
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