Identitätsentwicklung in der Postmoderne
Identitätsbildungsprozesse entstehen durch zwei Bewegungen: Der Mensch findet einzigartige Antworten aus seiner Individualität heraus, und er übernimmt Impulse, Projektionen und Erwartungen von seiner Umwelt. Bereits G.H Mead hat diese Begrifflichkeiten in seinem Identitätskonzept aufgegriffen und noch heute wird dieser Sicht Gültigkeit zugesprochen (vgl. Keupp, 1999, S. 6).
„Identität ist weitgehend eine narrative Konstruktion. Das zentrale Medium der Identitätsarbeit ist die Selbsterzählung. Damit meinen wir die Art und Weise, wie das Subjekt selbstrelevante Ereignisse auf der Zeitachse aufeinander bezieht und ›sich‹ und anderen mitteilt. Diese Selbsterzählungen werden von gesellschaftlich vorgegebenen Fertigpackungen ebenso beeinflusst wie von Machtstrukturen. Insofern sind Selbsterzählungen nicht einfach Ergebnisse kommunikativer Akte, sondern werden durch erzählerische Muster, medial verstärkte Metaerzählungen von Machtfragen geprägte Darstellungsmechanismen mit beeinflusst“ (ebd., S.216).
Keupp weist auf die besondere Bedeutung der narrativen Konstruktion als Medium zur Herstellung von Identität hin, (auf die ich an späterer Stelle ausführlicher eingehen werde) ebenso auf die zunehmende Relevanz von signifikanten Anderen. Diese gewinnt in einer gesellschaftlichen Situation, in der sich Strukturen lockern und sich die individuell zu leistende Identitätsarbeit verstärkt, an Einfluss. Zunehmend gilt es soziale Netzwerke in den Blick zu nehmen, denn grundsätzlich gilt „Menschen sind ohne ein Netzwerk an anderen Menschen, die sich über Sprache, körperliche und soziale Zuwendung begegnen, kaum überlebensfähig“ (Straus, 2008, o. S.). Durch soziale Netzwerke kann ein existenzielles Bedürfnis des Menschen im Hinblick auf die Herstellung von Identität erfüllt werden: Das Bedürfnis nach Anerkennung. Anerkennung beinhaltet drei Variablen: Wir bekommen Aufmerksamkeit, werden wahrgenommen oder gesehen; wir erfahren eine positive Bewertung durch signifikante Andere und wir bewerten die Bewertung der Anderen ebenfalls als positiv. Nur wenn diese drei Variablen in der beschriebenen Form erfüllt sind, kann Anerkennung hergestellt werden. Gegenspieler zu diesem durchaus komplexen und anspruchsvollen Prozess ist das Bedürfnis nach Selbstbehauptung des Subjekts. Da in der Postmoderne letzteres überbewertet wird, entsteht hier eine weitere Spannung, die in der Balancierung des konflikthaften Prozesses zwischen beiden Variablen bewältigt werden muss (vgl. ebd.). Und last but not least ist „Anerkennung ein knappes Gut“ (ebd., o. S.). D.h. es ist ein stetiges Bemühen erforderlich, um überhaupt Bedingungen zu erschaffen, die Anerkennung ermöglichen und in diesen fließt sie dennoch naturgemäß eher spärlich, was, um dies zu würdigen, eine entsprechende Haltung des Menschen erforderlich macht.
Heiner Keupp beschreibt als weitere Elemente für den postmodernen Identitätsbildungsprozess vier „Teilkonstruktionen der Identitätsarbeit“: Die Bildung von Teilidentitäten (vgl. s. a. Straus / Höfer, Renate 1997; Döring, 2003), das Identitätsgefühl eines Menschen, biographische Kernnarrationen und schließlich die Handlungsfähigkeit, die sich aus der geleisteten Identitätsarbeit entwickelt (ebd., S. 217). Bernadette Müller bezeichnet folgende Bereiche als relevante „soziale Teil-Identitäten“ (Müller, 2011, S. 17): Familie, Beruf, Nationalität, Ethnie, Politik, Region, Religiosität, Schicht, Geschlecht und Alter. Sie greift als Auslöser für die Veränderungen zum Identitätsverständnis und -erleben speziell den Bedeutungsverlust von Kirche in der Neuzeit heraus: „Die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der Neuzeit (z.B. Brüchigwerden der Vormachtstellung der Kirche in Bezug auf Weltdeutung und Lebensführung) bereiten den Nährboden für die Auseinandersetzung mit Identitätsfragen“ (ebd., S. 15).
Als zunehmend bedeutsam wird der Einfluss des Internets für Identitätsentwicklung diskutiert. Hier gibt es Freiräume sich selbst immer wieder neu zu erfinden, das Potential der Möglichkeiten auszuprobieren, wer ich sein will und wie ich sein will oder auch nicht. Es bietet sich als Optionsraum an für vielfältigste Identitätsentwürfe an, in denen die Selbstpräsentation unmittelbar in einer Öffentlichkeit stattfindet, die gleichzeitig durch ihre Möglichkeiten der Anonymität sowohl die zur Identitätsherstellung notwendige Rückkoppelung von sozialen Netzwerken als auch gleichzeitig einen Schutz beinhalten, der allerdings Kompetenzen erfordert, damit dieser Schutz wirksam bleibt. Grundsätzlich ist es so, dass Internet-Beziehungen, gleich welcher Couleur, grundsätzlich weniger Nähe herstellen lassen. Inge Seiffge-Krenke weist darauf hin, dass die Schamgrenze sinkt und trotz negativer Erfahrungen nach Offenbarung von privaten Informationen dieses Verhalten fortgesetzt wird (vgl. Seiffge-Krenke, 2012, S. 132). Insbesondere das Web 2.0 bietet Chancen aber auch Risiken, die eine Dimension annehmen, deren Folgen überhaupt nicht abzuschätzen sind. Es wird von der „Generation Internet“ (Palfrey, 2008) gesprochen, von „Digitalen Identitäten“ (Humer, 2008), von „Identity switch“ (Roesler, 2007) und es wird die Frage gestellt: „wer braucht ‚Identität'?“ (Hall, 2004).