Philippinen
Historische Entwicklung und aktuelle Herausforderungen
Die Philippinen unterstanden länger als andere Länder in Südostasien der westlichen Kolonialherrschaft. Seinen Namen verdankt der Archipel aus 7.107 Inseln (davon etwa 800 besiedelt) den Spaniern, die die Inselgruppe im Jahr 1521 erreichten. Die Eroberung von Cebu (1565) und Maynilad (dem heutigen Manila) leitete den Prozess der Kolonisierung ein. Erleichtert wurde die spanische Expansion durch die vorherrschende politische Organisationsform des aus 20 bis 100 Familien unter Führung eines datu (Stammesführers) zusammengeschlossenen Barangay, welcher den Spaniern militärisch unterlegen war. Daher konnte die Kolonialmacht rasch große Gebiete im Norden (Luzon) und im Zentrum der Inselgruppe (Visayas) unter ihre Kontrolle bringen und den Großteil der Bevölkerung missionieren (Abinales und Amoroso 2005, S. 27 ff.; McKenna 1998).
Das Interesse der spanischen Krone an den Inseln galt vor allem ihrer günstigen Lage für den Handel zwischen Mexiko und China. Die Erschließung und Verwaltung der außerhalb von Manila gelegenen Gebiete wurde weitgehend der katholischen Kirche überlassen. Somit entstand ein „klerikal-säkularer Staat“ („friarocracy“), der nur in der Kollaboration von spanischen Beamten, katholischen Priestern und lokalen Eliten bestehen konnte (Abinales und Amoroso 2005, S. 67). Dies sowie die Umwandlung von Gemeinschaftsland in Privatbesitz und die Einführung der Hazienda-Wirtschaft ließen eine Oberschicht von einheimischen Großgrundbesitzern (Kaziken) entstehen, deren Nachfahren zum Teil auch heute noch die lokalen Machtstrukturen dominieren (Atienza 2006, S. 241; Quimpo 2015).
Über 250 Jahre lang unterstand die Kolonie dem spanischen Vizekönig in Mexiko. Nach der mexikanischen Revolution wurde sie 1821 Madrid direkt unterstellt und bekam Sitz und Stimme in der spanischen Cortes. Das Ausbleiben innerer Reformen, die
Steckbrief
Bevölkerung |
Jahr der Unabhängigkeit |
Staatsform |
99,9 Mio. |
1946 |
Republik |
Territorium |
Jahr der geltenden Verfassung |
Staatsoberhaupt |
300.000 km2 |
1987 |
Benigno Aquino (seit 30.06.2010) |
BIP p.c. (2005 PPP, 2012) |
Amtssprachen |
Regierungschef |
$ 3.801 |
Filipino, Englisch |
Benigno Aquino (seit 30.06.2010) |
Ethnische Gruppen |
Demokratiestatus (BTI 2014) |
Regierungssystem |
Tagalen 28,1 %, Cebuanos 13,1 %, Ilokanos 9 %, Bisayas/Binisayas 7,6 %, Hiligaynon Ilonggo 7,5 %, Bikolanos 6 %, Waray 3,4 %, Andere 25,3 % |
6,8a |
Präsidentiell |
Religionsgruppen |
Regimetyp |
Regierungstyp |
Römisch-Katholisch 80,9 %, Muslime 5 %, Protestanten und andere Christen 11,6 %, Andere 2,5 % |
Defekte Demokratie |
Mehrparteienkoalition |
Quelle: CIA (2014); Bertelsmann Stiftung (2014)
a Skala von 1–10, höhere Werte zeigen höheren Demokratiegrad.
wirtschaftliche Öffnung nach dem Ende des transkontinentalen Seehandels (1818) und das Aufkommen neuer Bildungschancen für Filipinos durch die Öffnung des Suezkanals (1869), förderten das Entstehen einer philippinischen Nationalbewegung. Einheimische Priester und Angehörige der Bildungsschicht (illustrados, „die Gebildeten“) forderten die Emanzipation von Spanien. Sie bildeten den Kern der Kapitunan, einer 1892 gegründeten revolutionären Geheimgesellschaft (Abinales und Amoroso 2005; Caoili 2006a, S. 251). Der Ausbruch der Revolution 1896 führte jedoch die Schwäche der Nationalbewegung vor Augen, der es nicht gelang, die spanischen Truppen militärisch zu besiegen. Zudem fiel die Ausrufung der ersten Republik am 12. Juni 1898 („Maolos-Repulik“) mit der Niederlage Spaniens im Krieg gegen die USA zusammen. Im Friedensvertrag von Paris trat Spanien seine Kolonie, einschließlich der bis dahin nicht unterworfenen islamischen Gebiete auf Mindanao, an die USA ab. Der mit großer Härte geführte philippinischamerikanische Krieg endete 1902 mit der Kapitulation der Republik. Noch im gleichen Jahr wurde der „Philippine Act“ verabschiedet, der eine zivile Verwaltung mit einem amerikanischen Generalgouverneur an der Spitze vorsah.
Die von den USA durchgeführten Reformen umfassten die Einführung einer modernen Verwaltung und Justiz, die Modernisierung der Infrastruktur und des Wirtschaftssystems sowie die Einführung eines allgemeinen Bildungsund Gesundheitssystems. In der Folge stieg der Alphabetisierungsgrad bis Mitte der 1930er Jahre auf etwa 50 % der Bevölkerung und das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf erhöhte sich von US$ 699 (1902) auf US $ 1.587 (1940). Der öffentliche Dienst wurde für Filipinos geöffnet, wodurch sich ihr Anteil in der Zivilverwaltung bis 1919 auf 94 % vergrößerte (Abinales und Amoroso 2005, S. 140; Maddison 2006, S. 558 ff.). Mit der Einführung repräsentativer Körperschaften wurden die einheimischen Eliten in das Kolonialsystem integriert, zugleich aber die dezentralen und fragmentierten Machtstrukturen der politisch-wirtschaftlichen Führungsschicht gestärkt (Atienza 2006, S. 421). Wahlen auf lokaler Ebene und der Provinzgouverneure fanden bereits 1902 statt, ab 1916 gab es ein vollständig gewähltes Zweikammerparlament, in dem die konservative Partido Nacionalista (NP) dominierte (Tigno 2006b, S. 37). Die Verabschiedung des Tydings-McDuffie-Gesetzes von 1934 und einer am amerikanischen Vorbild orientierten Verfassung für den Commonwealth of the Philippines 1935 leiteten eine zehnjährige Übergangszeit unter einer gewählten philippinischen Regierung ein, an deren Ende die Unabhängigkeit des Landes stehen sollte. Der ausgehandelte „Fahrplan“ zur Unabhängigkeit wurde unterbrochen durch die japanische Besetzung der Inseln im Zweiten Weltkrieg (1942–1945), in deren Verlauf es zur Ausrufung einer philippinischen Republik von Japans Gnaden („Zweite Republik“) kam. Während ein Teil der Eliten kollaborierte, führte die Antijapanische Volksbewegung (Hukbalahap, Huk) unter Führung der PKP (Partido Kommunista Pilipina) einen Guerillakampf gegen die Besatzer (Kerkvliet 1977).
Nach der Rückeroberung der Inseln durch die amerikanischen Truppen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erlangten die Philippinen am 04. Juli 1946 als erste Kolonie Südostasiens die Unabhängigkeit. Der junge Staat blieb jedoch militärisch, politisch und wirtschaftlich eng mit den USA verbunden. Der Übergang zur „Dritten Republik“ vollzog sich innerhalb der Verfassungsordnung von 1935 und war gleichbedeutend mit der Machtübergabe von den Amerikanern an jene politisch-ökonomische Elite, die als wirtschaftliche Oberschicht in der spanischen Zeit entstanden und im Zuge der amerikanischen Filipinisierungs-Politik zu politischem Einfluss gekommen war. Sie dominierte das politische System des Landes nach 1946 und bildete die Rekrutierungsbasis für die Nationalpartei sowie die 1946 aus der NP hervorgegangene Liberale Partei.
Trotz des durch Wahlen geregelten Elitenwettbewerbs handelte es sich bei dem politischen System der „Dritten Republik“ nicht um eine intakte Demokratie. Für breite Bevölkerungsgruppen blieben die Partizipationsmöglichkeiten verschlossen. Korruption und die Vereinnahmung des Staates durch sektorale Interessen waren chronisch. Auf lokaler Ebene, wo das Gravitationszentrum der philippinischen Politik lag, beherrschten traditionelle Politiker („trapos“ genannt)[1] durch Patronage, Klientelismus und Gewalt den politischen Prozess (Bello und Gershman 1990).
Auch Ferdinand Marcos gelangte 1965 durch Wahlen ins Präsidentenamt. Als erstes Staatsoberhaupt wurde er 1969 wiedergewählt. Mit der Proklamation des Kriegsrechts im September 1972 beendete Marcos die Demokratie. Sein Anspruch, durch soziale Reformen eine „Neue Gesellschaft“ zu schaffen, entpuppte sich rasch als Leerformel. Trotz des Versuchs, der Diktatur einen konstitutionellen Anstrich zu verpassen, blieb ihr Institutionalisierungsgrad gering; die 1973 verabschiedete Verfassung und die 1978 zur Unterstützung des Präsidenten gegründete Kilusang ng Bagong Lipunan (KBL, „Bewegung für eine Neue Gesellschaft“) blieben ohne Eigenwert oder Bindewirkung für das politische Handeln.
Die Ende 1970er explodierende Außenverschuldung und die unkontrollierte Selbstbereicherung durch Marcos und seine „cronies“ (Kumpanen) ließen die philippinische Wirtschaft Anfang der 1980er abstürzen. Zur ökonomischen Leistungskrise gesellte sich das Versagen der Regierung im Kampf gegen die wiedererstarkte kommunistische Bewegung. Mittelschichten, Unternehmer, Teile der Gewerkschaften und die katholische Kirche entzogen dem Regime die Unterstützung; Technokraten und radikale Gruppen im Militär verließen die Regimekoalition (Thompson 1995). Machtpolitische Fehler, wie die Ermordung des Oppositionspolitikers Benigno Aquino (1983), verschärften die Legitimitätskrise der Autokratie. Schließlich erlag Marcos der Fehleinschätzung, durch die kurzfristige Ankündigung von Präsidentschaftswahlen seine Herrschaft stabilisieren zu können. Die Opposition einigte sich auf Corazon Aquino (der Witwe von Benigno Aquino) als gemeinsame Kandidatin. Die Wahlen fanden am 7. Februar 1986 statt. Sowohl Marcos als auch Aquino erklärten sich zum Sieger. In die verworrene Lage platzte am 22. Februar der Putschversuch von Teilen des Militärs um General Fidel V. Ramos, Verteidigungsminister Juan Ponce Enrile und einer sich RAM (Reform the Armed Forces Movement) nennenden Gruppe junger Offiziere unter Führung von Oberst Gregorio Honassan. Der Putsch scheiterte, wurde aber zur Initialzündung für die als „People Power Revolution“ oder „EDSA I“ [2] bekannten Massenproteste, die Marcos zum Rücktritt zwangen.
Einen Monat nach der Flucht des Diktators ins amerikanische Exil erließ die neue Präsidentin eine provisorische Verfassung und beauftragte einen Konvent mit der Ausarbeitung eines neuen Grundgesetzes, das im Februar 1987 in einem Referendum ratifiziert wurde. Die Kongresswahlen vom Mai und Juli 1987 bildeten den Abschluss der Transition zur Demokratie. Die Wahlen führten zur Rückeroberung der repräsentativen Körperschaften durch die alte politische Elite (Rüland 1996, S. 288): Von den 200 Mitgliedern des Repräsentantenhauses gehörten 130 zu den etablierten politischen Dynastien und der Wirtschaftselite des Landes. Die Zusammensetzung des Senats zeigte ein vergleichbares Profil (Abinales und Amoroso 2005, S. 236).
Im Gegensatz zu Thailand hat der demokratische Minimalkonsens zwischen den politischen Eliten in den Philippinen seit der Demokratisierung gehalten. Ein wichtiger Grund ist die hohe Kohäsion der Eliten aufgrund ihrer gemeinsamen politischen Sozialisierung unter der Marcos-Diktatur und ihrer ähnlichen sozialen Herkunft. Zudem haben die Eliten aus den Erfahrungen der Diktatur die Lehre gezogen, dass die Demokratie bessere Chancen zur Durchsetzung ihrer Interessen bietet, als eine Autokratie, die sich auf eine deutlich kleinere Verteilungskoalition stützt. Darüber hinaus ist das Institutionensystem der philippinischen Demokratie zu nennen, das zahlreiche Mechanismen der Machtkontrolle und Machtverteilung bereithält. Sie hemmen zwar die Entscheidungseffizienz und Leistungsfähigkeit des politischen Systems, erschweren aber eine Machtkonzentration wie unter Marcos (Kawanaka 2010).
Als konsolidiert kann die Demokratie aber nicht gelten. Zwar werden Wahlen von einem Großteil der Eliten und der Bürger als einzig legitime Form des Machterwerbs akzeptiert. Der Wahlprozess ist jedoch „anarchisch“ (McCoy 1994) und wird überschattet von Unregelmäßigkeiten und Gewalt. Politische und kriminelle Gewalt, auch durch muslimische Separatisten in Mindanao und eine aktive kommunistische Guerilla, sind Teil des politischen Alltags. Während der als „People Power II/EDSA II“ bezeichneten Protesten im Januar 2001, die zur Amtsenthebung des 1998 gewählten Präsidenten Joseph Estrada führten, wurde die Schwäche der zivilen Politik gegenüber dem Militär deutlich, denn wie bereits im Februar 1986 gab auch hier das Eingreifen der Streitkräfte, zugunsten von Estradas Vizepräsidentin Gloria Macapagal Arroyo, den Ausschlag (Landé 2001). Zudem hat sich die Unzufriedenheit mit den politischen Institutionen und Eliten in den Philippinen in den letzten Jahren mehrmals in Massenprotesten gegen die Regierenden entladen (Thompson 2011).
Die Ursachen dieser wiederkehrenden politischen Krisen liegen in der erneuten Kartellisierung des politischen Systems durch die politischen Eliten der vorautoritären Phase und in der Unfähigkeit des demokratischen Systems, die sozial hochgradig ungerechten Verteilungsmechanismen aufzubrechen. Mehr noch als in anderen südostasiatischen Ländern geht die unzureichende Problemlösungsfähigkeit der politischen Institutionen in den Philippinen mit einer mangelnden gesellschaftlichen Integration einher. Dies zeigt sich zum einen in der „Unlösbarkeit“ der seit mehr als vier Jahrzehnten andauernden innerstaatlichen Gewaltkonflikte. Zum anderen (aber damit verbunden) sind auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Sturz der Diktatur große Teile der Bevölkerung vom fairen Zugang zu Lebenschancen ausgeschlossen. Die Armutsbekämpfung war deutlich weniger erfolgreich bei der Verringerung der absoluten Armut als in den meisten anderen Staaten der Region und die Grundbedürfnisse eines erheblichen Teils der Bevölkerung sind weiterhin ungesichert (ADB 2010, S. 143). Dabei ist zu beachten, dass die Philippinen inzwischen einer der weltweit größten Exporteure von Arbeitskräften sind, was zwar den heimischen Arbeitsmarkt entlastet und durch die Überweisungen der mehr als drei Millionen im Ausland beschäftigten Filipinos eine wichtige Einkommensquelle darstellt. Diese Entwicklung ist jedoch auch ein Zeichen für die mangelnde Fähigkeit der philippinischen Wirtschaft, in ausreichendem Maße Einkommenschancen bereitzustellen – ein Problem, das sich aufgrund des raschen Bevölkerungswachstums in Zukunft noch verschärfen wird (vgl. Rother 2009).
Tab. 10.1 Verfassungen in den Philippinen
Proklamiert |
Dauer in Tagen |
Anzahl der Wörter |
Grund für das Außerkrafttreten |
20/01/189 – 01/04/1901 |
801 |
5259 |
Kapitulation der Republik |
14/05/193 – 17/01/1973 |
13763 |
8474 |
Abgelöst durch die IV. Republik |
07/09/194 – 17/08/1945 |
710 |
4451 |
Kapitulation der Republik |
17/01/197 – 25/03/1986 |
4816 |
11566 |
People Power/EDSA I |
25/05/198 – 11/02/1987 |
312 |
1493 |
Interimsverfassung |
11/02/1987 |
??? |
21650 |
Quelle: Rebullida (2006a) und eigene Zusammenstellung