Sollte für mein Kind die Schule später anfangen?
Seit Jahren fordern Schlafforscher einen späteren Schulanfang. Bereits im Jahr 1998 untersuchte die bekannte amerikanische Schlafforscherin Mary Carskadon die Auswirkungen auf den Schlaf von Schülern, bei denen die Schule nach einem Klassenwechsel fast eine Stunde früher begann [71]. Während die Schüler in der 9. Klasse noch um 8:25 Uhr zur Schule gingen, war es in der nächsten Klassenstufe dann 7:20 Uhr. Die Forscherin konnte zeigen, dass die Schüler abends nicht früher ins Bett gingen, wie es für einen gesunden Schlaf notwendig gewesen wäre. Stattdessen schliefen sie nach dem Klassenwechsel weniger und waren dafür in der Schule sehr viel müder. Auch der Schlaf-wach-Rhythmus (gemessen durch das Hormon Melatonin) zeigte nicht eine frühere, sondern eine noch spätere optimale Schlafphase an. Dies könnte auch damit Zusammenhängen, dass Jugendliche einen eher abendlichen Chronotyp aufweisen und in dieser Lebensphase lieber später ins Bett gehen und später aufstehen (siehe Frage Verändert sich der eigene Chronotyp während der Lebensspanne?). Die Schüler saßen also zu einer Zeit in der Schule, während der sie eigentlich noch hätten schlafen sollen. Seitdem wurde eine Vielzahl von Studien zu dem Thema durchgeführt. Insbesondere wurden die Effekte eines späteren Schulanfangs auf die Schlafdauer und die Müdigkeit untersucht. Es zeigt sich sehr einheitlich über 20 Untersuchungen hinweg, dass ein späterer Schulanfang den Schlaf der Jugendlichen verlängert und die Müdigkeit der Schüler verringert [72].
So wurden zum Beispiel die Schüler in zwei Schulen in Seattle, USA, untersucht [73]. Ihre Schulen hatten entschieden, den Schulanfang im
Herbst 2016 von 7:50 Uhr auf 8:45 Uhr zu verschieben. Die Bewegung und der Schlaf der Schüler wurden vor und nach dem Wechsel jeweils im Frühling mittels Bewegungsmessgeräten erhoben. Nach dem Wechsel schliefen die Schüler ungefähr 30 Minuten länger als vor dem Wechsel. Sie gingen zwar etwas später ins Bett, bekamen aber insgesamt immer noch mehr Schlaf als bei dem früheren Schulanfang. Die Auswirkungen waren durchaus positiv: Die Schüler fühlten sich weniger müde, und ihr sozialer Jetlag (Unterschiede zwischen dem Schlafverhalten an Schultagen im Vergleich zum Wochenende, siehe Frage Habe ich am Wochenende einen „Jetlag“?) nahm ab. Und sie hatten bessere Noten, wenn die Schule später begann. Auch andere Studien berichten ähnlich positive Effekte: So reduzierten sich bei einem späteren Schulanfang die Anzahl von Schülern, die zu spät zum Unterricht kamen, sowie die Anzahl an Unfällen auf dem Schulweg [74].
Aber nicht alle Studien finden positive Ergebnisse: So haben zum Beispiel in Basel drei Weiterbildungsschulen 2014 bzw. 2015 entschieden, den Schulanfang von 7:40 Uhr auf 8:00 Uhr zu verlegen. Insgesamt über 1000 Schüler aus der 8. und 9. Klasse nahmen an einer Studie teil, bei ca. 600 Schülern wurde der Schulanfang verschoben, bei ca. 400 nicht [75]. Es zeigte sich kein Unterschied in der berichteten Schlafdauer zwischen den beiden Gruppen. Wenn die Schule später anfing, gingen die Schüler einfach später ins Bett und standen später auf. Auch die Müdigkeit und andere Faktoren blieben unverändert. Möglicherweise war die Verschiebung um nur 20 Minuten nicht genug, um Unterschiede zu bewirken.
Eine oft diskutierte Frage ist, ob die positiven Effekte des späteren Schulanfangs nur kurzfristig sind oder auch langfristig erhalten bleiben. Es könnte ja sein, dass Schüler zunächst zwar länger schlafen, wenn die Schule später anfängt. Nach einiger Zeit gewöhnen sie sich an den neuen Rhythmus und gehen dann doch wieder später ins Bett. Die oben genannte Studie aus Seattle konnte immerhin noch mehr als sechs Monate nach der Umstellung eine verlängerte Schlafdauer feststellen. Allerdings müssen noch mehr Studien in Zukunft längere Zeiträume erfassen.
Ein späterer Schulbeginn erscheint auch deshalb sinnvoll, da gerade Jugendliche vermehrt Abendtypen sind und einen verspäteten Schlaf-wach-Rhythmus haben. Auch hier gibt es Berichte, dass Abendtypen eher geringere schulische Leistungen aufweisen als Morgentypen [76]. Auf dem Level der Universität gibt es diesen Zusammenhang zwar auch noch, er ist aber nicht mehr so stark. Der starre frühe Schulbeginn könnte also die Nachteile für die Leistungsfähigkeit von Abendtypen in der Schule noch verstärken.
Insbesondere in Amerika wird die Forderung nach einem späteren Schulanfang auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene mit Nachdruck vertreten. So setzt sich zum Beispiel der Verein Start School Later (englisch: Startet die Schule später) stark für die Umsetzung der späteren Schulanfänge ein. Und das mit Erfolg. Auf der Website des Vereins finden sich viele Informationen, Hintergründe und Errungenschaften der Initiative [77]. In vielen amerikanischen Schulen in unterschiedlichen Bundesstaaten wurden bereits spätere Schulanfänge eingeführt. In vielen Fällen wurde der Schulanfang auf 8:00 Uhr oder 8:30 Uhr verschoben, in Kalifornien hat der Gouverneur im Oktober 2019 sogar ein entsprechendes Gesetz unterzeichnet [78]. In der Schweiz und in Deutschland gibt es ähnliche Bestrebungen, diese beschränken sich bisher aber noch auf einzelne Schulen oder Schulbezirke.
Einen interessanten Ansatz hat ein Gymnasium in Alsdorf bei Aachen in Deutschland verfolgt. Hier wurde der Schulbeginn nicht generell verschoben, sondern es wurde ein flexibler Schulbeginn zwischen 8:00 Uhr und 8:50 Uhr angeboten. Diese Zeit war für Selbststudium vorgesehen, und die Schüler konnten selbst entscheiden, ob sie den Zeitraum am Morgen dafür nutzen wollten oder nicht. Wenn nicht, dann musste das Selbststudium zu einem anderen Zeitpunkt (z. B. am Nachmittag) nachgeholt werden. Es zeigte sich, dass die Schüler an den Tagen, an denen sie später zu Schule gingen, deutlich länger schliefen [79]. Dabei war tatsächlich ihre Schlafdauer verlängert, da sie am Abend vorher nicht unbedingt später ins Bett gingen. Zusätzlich bewerteten sie ihren Schlaf an diesen Tagen als besser und mussten seltener von ihrem Wecker geweckt werden. Die Schüler nutzten ungefähr an zwei Tagen der Woche die Möglichkeit, später zur Schule zu gehen. An den anderen drei Tagen kamen sie um 8:00 Uhr. Wenn man nicht nur die Tage betrachtet, an den sie später zur Schule gingen, sondern alle fünf Tage zusammen, ergab sich dagegen keine längere Schlafdauer nach der Einführung des flexiblen Systems im Vergleich zu vorher. Trotzdem waren die Schüler sehr zufrieden mit dem flexiblen System, gaben an, dass sie sich insgesamt wacher und konzentrierter fühlten, sowohl in der Schule als auch bei den Hausaufgaben.
Eine flexible Lösung scheint also vielversprechend zu sein. Zum einen unterscheiden sich auch Jugendliche stark in ihrer Präferenz, früh oder spät aufzustehen, genau wie es unter allen Menschen Morgen- und Abendtypen gibt. Eine generelle Verschiebung des Schulbeginns kommt dann auch wieder nur einem Teil der Jugendlichen zugute. Weiter kann es sogar Jugendliche geben, die an einigen Tagen gerne früh aufstehen, während sie an anderen Tagen lieber später kommen, und dies auch tatsächlich selbst entscheiden können. Vielleicht ist eine langsame Ablösung von den starren schulischen Zeitvorgaben hin zu einem selbstbestimmteren Lernsystem ein erstrebenswerter Ansatz. Und das nicht nur in Bezug auf ausreichenden Schlaf.