Wie können Menschen mit unterschiedlichen Religionen gut Zusammenleben?

Es ist normal, verschieden zu sein

Das Buch, das du in den Händen hältst, fragt danach, warum es verschiedene Religionen gibt, was die verschiedenen Religionen ausmacht, was sie miteinander verbindet und was sie unterscheidet. Aber ich weiß nicht, ob du auch schon darüber nachgedacht hast, was es braucht, damit Menschen, die zu verschiedenen Religionen gehören, gut Zusammenleben können? Vielleicht lebst du ja in einer Familie, in der die beiden Eltern oder Partner deiner Eltern zu verschiedenen Religionen gehören, sodass du diese Frage auch in der eigenen Familie kennst?

Es begegnen einander Menschen, nicht Religionen

Häufig ist vom »Dialog der Religionen« die Rede. Genau genommen sind es aber immer Menschen, die religiös sind, die zu einer bestimmten Religion gehören oder die sich als nicht religiös bezeichnen. Deshalb begegnen sich immer Menschen, die christlich oder jüdisch oder muslimisch oder buddhistisch sind oder zu einer anderen Glaubensgemeinschaft gehören.

Das ist gut so, dass sich Menschen mit ihrer Religion und ihrem Glauben begegnen. Denn Menschen können aufeinander zugehen und einander anschauen, sie können miteinander reden und einander zuhören. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer hat kurz nach seinem 100. Geburtstag gesagt: »Wir müssen endlich wieder lernen, wie man ein richtiges Gespräch führt. ... Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere recht haben könnte.«

Dialog heißt, ein richtiges Gespräch führen

Für das Zusammenleben ist es notwendig, dass Menschen richtige Gespräche miteinander führen können. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe und will gelernt sein. Denn dafür braucht es eine Reihe von Fähigkeiten: Es braucht Neugier und Interesse am anderen Menschen, an seiner Art zu leben, an seiner Religion. Es braucht die Fähigkeit des Zuhörens, die Fähigkeit, über die eigene Religion etwas zu wissen, und die Fähigkeit, anderen davon mitteilen zu können.

Wenn wir die Religion eines anderen Menschen kennenlernen und verstehen wollen, dann müssen wir einander mehr erzählen als nur von der Religion. Wenn wir einander verstehen wollen, dann ist es gut, auch zu wissen, was dem anderen wichtig ist - und was uns selbst wichtig ist. Wenn ich weiß, was der andere mag, was er gar nicht mag und was man aus seiner Sicht nicht tun darf, dann kann ich ihn besser verstehen. Und umgekehrt ist das auch so.

Deshalb gehört zu den Fähigkeiten, die für das Zusammenleben ganz wichtig sind, die Fähigkeit des Zuhörens. Zuhören ist ein aktives Tun, manchmal sagen wir auch: »Ich bin ganz Ohr.« Das soll heißen, dass wir unsere eigenen Gedanken loslassen und uns ganz darauf konzentrieren, was uns die andere Person mitteilt. Wir können fragen und nachfragen, manchmal zusammenfassen und manchmal auch mit eigenen Worten wiederholen, was wir besonders interessant und spannend finden. Wir können der anderen Person durch unsere Körpersprache zeigen, dass wir gut zuhören, indem wir sie interessiert anschauen, manchmal bestätigend nicken. Wir können zugleich spüren, was der anderen Person beim Erzählen wichtig ist, wir können ihre Gefühle aufnehmen - und unsere eigenen. Wenn man aufzählt, was zu einem »richtigen Gespräch« alles dazugehört, merkt man, dass man diese Fähigkeiten lernen und üben muss.

Vorurteile entdecken

Interesse, zuhören, miteinander reden, einander kennenlernen, auch miteinander essen und feiern - all das ist auch deshalb wichtig, damit wir nicht Vorurteile über einen anderen Menschen und seine Religion entwickeln. Denn Vorurteile sind ja meist negative Urteile über jemand anderen, bevor wir ihn wirklich kennengelernt haben.

Über die eigene Religion etwas wissen

Um gut miteinander leben zu können, müssen wir auch über uns selbst Auskunft geben können. Manchmal wird uns erst im Gespräch mit anderen Menschen bewusst, wer wir selbst sind. Als Kinder merken wir beim Spielen mit anderen Kindern, was für uns selbst wichtig ist, was wir mögen und was wir nicht mögen. Es ist gar nicht so einfach zu formulieren: Was ist mir in meiner eigenen Religion wichtig? Welche Feste werden in der eigenen Religion gefeiert? Wie wird in der eigenen Religion gebetet? Welche Werte sind meinen Eltern und Großeltern wichtig? Welche Werte sind in der eigenen Religion wichtig?

Identität - oder: Wissen, wer man selbst ist

Es macht Menschen sicherer, wenn sie sich in der Schule und zu Hause austauschen: Was glauben wir in unserer eigenen Religion? Welche Geschichten sind wichtig? Welche Feste feiern wir und was feiern wir an diesen Festen? Denn aus Forschungen weiß man, dass Menschen, die über sich selbst und ihre Familie und das, was ihnen wichtig ist, Bescheid wissen und Interesse an anderen haben, auch besser mit anderen Zusammenleben können. Man weiß, dass es für das Zusammenleben hilfreich ist, wenn Menschen ein gutes

Selbstwert-Gefühl haben, das heißt, wenn sie empfinden können, dass sie okay sind. Es ist hilfreich, wenn Menschen ihre Stärken und ihre Schwächen kennen, wenn sie ihre Gefühle gut wahrnehmen, ausdrücken und steuern können und wenn sie bei einer Kränkung nicht gleich zornig werden oder sich beleidigt zurückziehen.

Gebote und Werthaltungen

Wie schon gesagt, sind für das Zusammenleben im Alltag Werte und

Werthaltungen wichtig. Diese beschreiben, was die eigene Religion sagt, wie man sich verhalten soll. Alle Religionen haben Gebote und Weisungen, die ausdrücken, welches Verhalten richtig und welches falsch ist. Juden und Christen und Muslime ebenso wie Hindu-Gläubige und Buddhisten sind verbunden in ihren wichtigsten Werten. Sie alle glauben, dass der Mensch aufgrund seines Glaubens nicht stehlen darf, ehrlich sein soll und keine Gewalt anwenden darf, dass der religiöse Mensch dem anderen helfen soll und vieles mehr. Du kannst mit deinen Eltern oder anderen Verwandten besprechen, welche Gebote und Grundhaltungen für dich und deine Familie sowie für deine Religion Bedeutung haben.

Was hilft

Für das Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen Religionen gibt es ein paar Grundhaltungen, die hilfreich sind. Ich nenne sie dir hier, vielleicht fallen dir noch weitere hilfreiche Eigenschaften ein.

Tolerant sein

Vielleicht hast du das Wort »Toleranz« schon einmal gehört. »Tolerare« stammt aus dem Lateinischen und bedeutet »ertragen, erdulden«, auch »nachsichtig sein, großzügig, weitherzig«. Das Gegenteil »Intoleranz« oder »intolerant sein« meint, »unduldsam sein, keine andere Meinung oder Überzeugung gelten lassen«. Toleranz schützt das Zusammenleben unter Menschen, denn es bedeutet, dass wir verschiedene Überzeugungen nicht teilen oder gutheißen müssen, um gut miteinander Zusammenleben zu können. Toleranz heißt, wir »ertragen«, dass wir verschieden sind, dass wir verschiedene Meinungen haben, verschiedene Werte, verschiedene Religionen. Wir schützen unsere Verschiedenheit, indem wir weitherzig und großzügig wahrnehmen und aushalten, dass wir verschieden sind - auch wenn wir uns manchmal über den anderen ärgern oder wenn uns fremd erscheint, was andere machen, wie sie sich kleiden und wie sie leben.

Gleiches vergleichen

Beim Zusammenleben kommen schnell Vergleiche ins Spiel: Kinder vergleichen ihre Noten und die Spielsachen, auch Erwachsene vergleichen immer wieder, wer was hat, ob der andere mehr oder weniger hat.

Dieses Vergleichen geschieht auch bei Religionen. Ein Vergleich kann aber auch verzerrt sein: Es könnte zum Beispiel sein, dass ich die Feiern meiner eigenen Religion, die ich gut kenne, mit anderen vergleiche, die ich kaum oder gar nicht kenne - und sie dadurch sehr interessant finde oder ablehne. Und wieder gilt: Für das Zusammenleben ist es gut, zuerst dem anderen genau zuzuhören und zu verstehen versuchen, was dem anderen und was auch mir selbst wichtig ist.

Konflikte lösen

Weil Menschen verschieden sind, braucht das Zusammenleben gemeinsame »Spielregeln«. Es braucht in der Schule und in der Nachbarschaft ebenso wie in der ganzen Gesellschaft konkrete Regeln, die für alle gelten. Die Staaten auf der ganzen Welt haben sich in den Vereinten Nationen zusammengeschlossen und diese Grundwerte miteinander definiert. Gemeinsam haben sie festgeschrieben, dass die Würde jedes Menschen und die Gleichheit aller Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht und ihrer Herkunft, die feste Grundlage unseres Zusammenlebens sind. In den internationalen Menschenrechten und den Kinderrechten ist beschrieben, was alles zu diesen Grundrechten eines jeden Menschen gehört.

In jeder Gesellschaft braucht es auch Modelle, wie Konflikte gelöst werden können. Du hast sicher schon in deiner Familie, in der Schule und mit Freunden erlebt, was ihr bei Streit und Konflikten gemacht habt und wie ihr diese wieder gelöst habt - vielleicht durch richtige Gespräche, von denen vorhin schon die Rede war, durch Verstehen, durch Toleranz oder durch Rücksichtnahme. Das braucht es überall, wo Menschen Zusammenleben, egal, ob Menschen einer gemeinsamen Religion oder verschiedenen Religionen angehören.

Die gemeinsame Basis in allen Religionen: die »Goldene Regel«

Es gibt eine gemeinsame Basis, die alle Religionen miteinander teilen. Sie hält ganz prägnant fest, was für das Zusammenleben wichtig ist. Wir haben als Kinder gelernt: »Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg’ auch keinem anderen zu.« Im Judentum heißt es: »Tue nicht anderen, was du nicht willst, dass sie dir tun.« In den christlichen Evangelien heißt es: »Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso.« Und in einem Hadith, einem Spruch Mohammads, heißt es: »Keiner von euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selber wünscht.« Auch in den Religionen Asiens gibt es die Goldene Regel. Wenn wir sie im Alltag befolgen, können wir gut Zusammenleben, so wie wir sind: vielfältig und bunt.

ZUM WEITERDENKEN UND WEITERFRAGEN:

  • O Hast du schon einmal mit jemandem, der zu einer anderen Religion gehört, über seine Religion gesprochen? Was würdest du ihn fragen?
  • O Hast du schon einmal jemandem, der zu einer anderen Religion gehört, von deiner eigenen Religion erzählt? Was würdest du von deiner Religion erzählen?
  • O Was denkst du: Welche Fähigkeiten braucht es deiner Meinung nach, damit Menschen mit verschiedenen Religionen im Alltag gut Zusammenleben können?

Chiara und Albert Biesinger

 
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