Handlungsschemata von biographischer Relevanz
Fritz Schütze bezeichnet die Prozessstruktur der Handlungsschemata zusammenfassend als „geplante und durchgeführte biographische Handlungsabläufe“ (Schütze, 1983, S. 286). Diese zeichnen sich aus durch einen strukturellen Ablauf mit den Elementen Ankündigung, Durchführung und Evaluation/ Ergebnissicherung (vgl. Schütze, 1981, S. 70-73). Handlungsschemata sind kommunikative, soziale Prozesse, die sich über lange Zeiträume entwickeln (ebd., S. 70f u. 74f) und für die Entwicklung der Identität Realisierung von Entwicklungsschritten bedeuten (vgl. Schütze, 1984, S. 94).
Verlaufskurven
Verlaufskurven sind Erleidensprozesse. Das eigene Leben fühlt sich zunehmend an, als verliere die Protagonistin die Kontrolle, gerate ins Trudeln, verliere den Boden unter den Füßen und entwickele sich als passiv Erleidende in eine tragisch, schicksalhafte Entwicklung hinein, die nicht aus eigener Kraft zu stoppen und in eine neue Richtung zu lenken ist. Auch fühlt sie sich von außen auf sie einwirkenden Ereignissen, die ihr fremd sind, ausgesetzt, von ihnen überwältigt und wie in einen Sog hinein gezogen. (vgl. Schütze, 1981, S. 88ff). Für das eigene Identitätsempfinden stellen Verlaufskurvenprozesse eine Bedrohung dar, sie destabilisieren und haben eher einen zunächst regressiven Charakter. Bei erfolgreicher Bewältigung eines solchen Prozesses können jedoch im Nachhinein von der Biographieträgerin die innewohnenden Qualitäten für konstruktive Entwicklungsprozesse bzw. die Verlaufskurve als Auslöser dieser gesehen werden (vgl. Schütze, 1984, S. 94).
Wandlungsprozesse der Selbstidentität
Wandlungsprozesse im Verständnis von Fritz Schütze beschreiben die Veränderung bzw. den Wechsel der Prozessstruktur und damit einhergehend eine Veränderung der Ich-Identität der Protagonistin. Diese Prozesse verlaufen in der Regel über einen längeren Zeitraum, können sich aber sowohl schleichend, als auch plötzlich, sprunghaft vollziehen, benötigen dann jedoch Zeit zur Verarbeitung und Integration sowie den Aufbau einer neuen Identitätsstruktur.
„Biographische Prozesse der Wandlung sind dadurch gekennzeichnet, dass die Betroffenen in sich selbst – mehr oder weniger verwundert – neue Kräfte feststellen, mit denen sie zuvor überhaupt nicht gerechnet haben. Sie erleben zunächst mehr oder weniger undeutlich, beginnen allmählich aufmerksam zu werden und begreifen dann schließlich abrupt, dass sie Vollzüge beherrschen, an deren Meisterung sie vorher nicht zu denken wagten bzw. auf die sie gedanklich gar nicht gekommen wären. Der plötzlichen Erkenntnis geht ein Zustand der erheblichen eigenen Verunsicherung voraus, weil man nicht mehr mit sich selbst, seinem Alltagsleben und den anderen wichtigen Menschen in der eigenen sozialen Umgebung im Einklang ist.“ (Schütze, 2001, S. 142f.).
Identitätsentwicklung hat, wie bereits beschrieben, immer mit Veränderung zu tun und an entscheidenden Stellen mit Identitätssprüngen, mit dem ‚sich selbst Fremdwerden' und dann in einem zeitlichen Prozess damit, in die neue Identität hineinzuwachsen.
In dieser Arbeit geht es darum, Identitätsentwicklung unter dem Fokus der Wandlung bezogen auf die geistig-religiöse Dimension zu untersuchen.
Damit sind im Verständnis von Fritz Schütze kreative Veränderungsprozesse (ebd., S. 137) gemeint. Diese, so Schütze weiter, würden von den Betroffenen in der Weise erlebt, dass sie unbekannte Kompetenzen in sich feststellen, was mit Verunsicherung einhergeht, auch trennende Erfahrungen dem bisherigen sozialen Netz gegenüber. Ein sozialer Rückzug sei die Konsequenz, der auch Voraus-setzung dafür sei, um einen Freiraum dafür zu schaffen, dass sich Neues zeigen und entwickeln dürfe und damit experimentiert werden könne. Diese Phase des Rückzugs nennt Schütze in Anlehnung an Erikson [1] Moratorium (vgl. auch Erikson, 1973).
Das konkrete Ausprobieren der neu entdeckten Fähigkeiten, der neuen Denkund Verhaltensweisen, stellt einen weiteren wichtigen Schritt dar. Es ist ein Lernprozess, in dem sozusagen durch ‚learning by doing' die neue Identität bestätigt wird, sowohl bezogen auf die eigene Person der Betroffenen, als auch auf die veränderte Positionierung im alten oder ggf. in einem neuen sozialen Kontext.
Durch die Erfahrung eines solchen Wandlungsprozesses entstehe eine grundsätzlich veränderte Haltung zur Welt, die Schütze als offen, sensibel und ideensuchend beschreibt. Die Menschen, die diese Prozesse durchlaufen haben, empfinden sich schlussendlich als selbstwirksam, auch im Sinne einer Berechtigung zur Gestaltung des eigenen auch zukünftigen Lebens. Unterstützend für entsprechende Prozesse können hier Menschen sein, die einen neuen Blick auf sich selbst ermöglichen, die Potentiale sehen und dies auch kommunizieren (vgl. Schütze, 2001, S. 142-145).
- [1] Erikson verwendet diesen Begriff allerdings eingeschränkt auf die Phase des Jugendlichen in Richtung der Entwicklung einer Identität als junger Erwachsener. Schütze verwendet diesen Begriff die gesamte Lebensspanne einschließend, bezogen auf ein Stadium oder Element der Wandlungsprozesse, wie er sie beschreibt