Die Geschichte des Lebens
Professor MICHAEL J. REISS
Institut für Bildung, Universität Cambridge
Wenn wir die Tiere und Pflanzen um uns herum betrachten, scheint die schiere Vielfalt des Lebens erstaunlich. Selbst in einer geschäftigen Stadt zeigt uns schon ein einziger Spaziergang Dutzende von Arten, von Insekten, die so klein sind, dass wir sie kaum sehen, über Bäume bis hin zu großen Tieren wie Vögel und Säugetiere. Auf dem Land gibt es buchstäblich Tausende von Arten selbst in den kleinsten Wäldern, Wiesen oder Sümpfen.
Wir wissen immer noch nicht, wie viele Arten von Lebewesen es auf der Welt gibt. Etwa 1,2 Millionen wurden bisher von Wissenschaftlern genauer bestimmt, beschrieben, klassifiziert und benannt - doch die wahre Gesamtzahl ist viel größer. Die Schätzungen gehen von 8 oder 9 Millionen Arten insgesamt aus, doch einige Biologen glauben, dass die Zahl viel höher ist. Das heißt, dass die überwiegende Mehrzahl der Arten auf unserem Planeten noch nicht einmal einen Namen erhalten hat. Sie könnten aussterben und wir würden das nicht einmal bemerken!
Wo kommen all diese Arten her? Das ist eine Frage, die sich
Menschen oft gestellt haben. Viele Religionen der Welt haben eine Antwort versucht. Sie sagen z. B., dass Gott das Leben erschaffen hat. Diese Antwort genügt Wissenschaftlern aber nicht. Selbst wenn Gott die Arten - und auch uns selbst - erschaffen hat, wollen wirwissen, wann und wie!
Erst Charles Darwin fand im 19. Jahrhundert die Antwort, die wir immer noch für richtig halten.
Darwin erkannte Folgendes: Genau so, wie Bauern neue Nutztiersorten züchten können, wenn sie immer nur bestimmte Tiere auswählen, kann auch die Natur neue Arten durch einen Vorgang hervorbringen, den er »natürliche Selektion« nannte (Selektion bedeutet »Auswahl«). Stell dir zum Beispiel vor, eine häufige Art samenfressender Vögel kommt in einigen Gegenden vor, in denen die Pflanzen viele kleine Samen tragen, und in anderen Gegenden, wo die Pflanzen vor allem große Samen tragen. Stell dir außerdem vor, dass die einzelnen Vögel ein wenig unterschiedlich große Schnäbel haben und dass die Schnabelgröße eines Vogels teils darauf beruht, wie groß die Schnäbel der Eltern sind, sodass Vögel mit kleinen Schnäbeln Nachkommen mit kleinen Schnäbeln und Vögel mit großen Schnäbeln Nachkommen mit großen Schnäbeln haben.
Charles Darwin (1809-1882)
Charles Darwin war der Sohn eines berühmten Arztes. Er studierte Medizin in Edinburgh und beschloss dann, Theologie zu studieren, wobei er sich aber zugleich auch mit Biologie beschäftigte. Bevor er eine Stelle als Geistlicher antreten konnte, wurde er zum »Gentleman-Naturforscher« auf einem Forschungsschiff der Marine, der Beagle, ernannt, das um die Welt segeln sollte. Das ermöglichte ihm, Pflanzen, Tiere und geologische Formationen an vielen verschiedenen Orten zu erkunden. Die Reise dauerte von 1831 bis 1836. Darwin sammelte viele Proben und machte viele Beobachtungen, die sein Denken für den Rest seines Lebens beeinflussten.
Darwin war ein wohlhabender Mann und glücklich verheiratet. Er und seine Frau Emma hatten Dienstboten und seine Frau verwaltete den Haushalt. So hatte Darwin Zeit für seine wissenschaftliche Arbeit, auch wenn er und Emma zehn Kinder hatten, von denen die meisten sehr gern in das Studierzimmer des Vaters stürmten, um ihn zum Spielen zu überreden.
Das ist bisher alles nicht überraschend. Aber Darwin erkannte: Wenn die Schnabelgröße für das Überleben und die Zahl der Nachkommen des Vogels wichtig ist, etwa weil die Nahrung manchmal knapp ist, dann wird die natürliche Selektion langsam zu einer Veränderung der Schnabelgröße führen. Mit der Zeit werden die Vögel in den Gegenden mit den großen Samen große Schnäbel bekommen und die Vögel in den Gegenden mit den kleinen Samen kleine Schnäbel. Wenn genug Zeit vergeht, könnte sich die ursprüngliche einzige Vogelart zu zwei neuen Arten entwickeln, die jeweils an ihre Nahrungsquelle angepasst sind.

Darwin veröffentlichte seine Theorie 1859 in einem Buch mit dem Titel »Über die Entstehung der Arten« (es erschien schon i860 auf Deutsch, der volle Titel lautete »Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn« - damals mochte man sehr lange Buchtitel). Es handelt sich dabei um eines der wichtigsten wissenschaftlichen Bücher, die je geschrieben wurden. Darwins Werk veränderte unsere Sicht auf die Welt und wurde immer wieder nachgedruckt; es war niemals vergriffen. Ein dickes Buch, aber auch heute noch eine lohnende Lektüre!
Darwin räumte selbst ein, dass seine Theorie nicht alles erklären kann. Vor allem die Frage, wie die allererste Art überhaupt entstanden seinkönnte, bleibt offen. Schließlich kann Darwins Theorie zwar erklären, wie sich Arten im Lauf der Zeit verändern und sich zu neuen Arten entwickeln, aber sie sagt nichts darüber aus, wie der Vorgang überhaupt begonnen hat.
Darwin war ein Genie. Die vorläufige Antwort, die ihm für den Ursprung der allerersten Arten einfiel, ist so ziemlich das, was auch heutige Wissenschaftler für möglich halten. Am i. Februar 1871 schrieb Darwin seinem engen Freund, dem Wissenschaftler Joseph Hooker:
Man sagt oft, dass alle Bedingungen für die erste Entstehung eines lebenden Organismus, die jemals vorhanden gewesen sein können, auch heute vorhanden sind. Aber wenn (und, oh, was für ein großes Wenn!) wir uns irgendeinen warmen kleinen Tümpel vorstellen mit allen möglichen Ammoniak- und Phosphorsalzen, Licht, Wärme, Elektrizität usw. darin, sodass eine Proteinverbindung chemisch geformt würde, bereit dafür, noch kompliziertere Veränderungen zu durchlaufen, so würde heutzutage solche Materie sofort aufgefressen oder absorbiert, was vor der Bildung von Lebewesen nicht der Fall gewesen wäre.
Wir wissen immer noch nicht sicher, wie das Leben begann. Es kann durchaus in einem oder mehreren von Darwins »warmen kleinen Tümpeln« geschehen sein, so wie er es vorgeschlagen hat. Aber sobald es angefangen hatte, war das Leben nicht mehr zu stoppen. Als die Jahrmillionen vergingen, breitete sich das Leben mehr und mehr über die Erdoberfläche aus. Die Arten wurden größer und widerstandsfähiger.
Sie bevölkerten das Land und hoben sich in die Luft. Schließlich hatten wir drei oder vier Milliarden Jahre nach dem Anfang des ersten Lebens
Wale und Kolibris und Mammutbäume und schöne Orchideen und all die weiteren acht oder neun Millionen Arten, die es heute gibt, darunter uns selbst.
Und wir entdecken immer noch einige dieser Arten. Vielleicht wirst auch du eines Tages irgendwo auf unserer wunderbaren Erde eine neue Art bestimmen!