„Ich war so die, die Rebellin“
Anna Paul beginnt ihre Erzählung damit, dass sie sich mit ihrem biologischen Alter, zum Zeitpunkt des Interviews ist sie 50 Jahre alt, und dem anschließenden Kommentar „das heißt, ich hab' ja schon wahrscheinlich mehr Vergangenheit als Zukunft“ (Z 16f). präsentiert. Dass die Endlichkeit des Lebens so nahe für sie scheint, erschließt sich im weiteren Zusammenhang, als sie vom Tod ihres Vaters, der ca. ein viertel Jahr zurückliegt, spricht (Z 47f). Sie schildert, eine „innige Erinnerung“ (Z 60) zu ihrem verstorbenen Vater zu empfinden. Diese Beschreibung wirkt der Einführung der Beziehung zu ihrer Mutter entgegengesetzt. Hier beschreibt Anna Paul die Situation ihrer Geburt wie folgt: „ich sprang aus dem Bauch meiner Mutter und wurde ihr sofort entrissen“ (Z 34-35), was eine Aktivität als Neugeborenes weg von der Mutter impliziert, die sie gar nicht vollbracht haben kann, sowie die Unterstellung einer Reife und Autonomie, die sie ebenfalls als Baby nicht gehabt haben kann, die sie sich vielleicht gewünscht hat und die möglicherweise ebenfalls Hinweise für ein Lebensthema von ihr bieten: das Empfinden einer möglicherweise auch in der Erzählzeit noch gefühlten Abhängigkeit von der Mutter einerseits und das Ringen um Autonomie andererseits. Dieser Konflikt in mütterlichen Beziehungen wird sich im weiteren Verlauf der Erzählung Anna Pauls insbesondere in der Beziehung zu ihrer spirituellen Lehrerin bestätigen.
Wichtig für die Selbsteinführung Anna Pauls im Rahmen des Interviews ist zudem das Zeichnen eines Bildes von sich, das ihre Hinwendung zum Buddhismus und zum Theater plausibilisieren soll. Sie erzählt anekdotenhaft, dramatisierend, nutzt hier ihre Kompetenz als Schauspielerin. Der inszenierende Charakter ihrer Vignetten wirkt auf die Interviewerin witzig, eine besondere und interessante Geschichte ankündigend. Sie setzt Übertreibungen ein und lacht selbst darüber, möglicherweise als Distanzierungsversuch, wobei die Botschaft, die darin steckt, wohl doch eine ernste ist, weil es um Themen geht, die zentral für Anna Pauls Leben sind. Ein Thema, dass sie präsentiert, ist das der Reinkarnation, das in den buddhistischen Kontext gehört.
„Und, also im Nachhinein denk' ich, ich sah wahrscheinlich aus entweder wie ein Chinese oder wie ein Tibeter. Äh (lacht). Und das war 1959, also ich meine – ne? War ja grad in der Zeit, wo auch ehm es da heftige Auseinandersetzungen gab oder schon gegeben hatte, und vielleicht eh bin ich da also ziemlich schnell direkt wiedergeboren worden und hatte *noch so letzte Anzeichen ehm meiner Vergangenheit* (lachend) ehm dabei“ (Z 27-33).
Die Qualität sich zu zeigen, die sie mit ihrem späteren Beruf als Schauspielerin verbindet, erklärt sie in folgender Weise:
„Und die ehm .. äh Hebamme lief mit mir durch die gan-, durch das ganze, durch die ganze Abteilung und zeigte mich her: *Schaut euch dieses Kind an*! (lachend) . So kam ich also auf die Welt. Und ehm ... ja, und beide und beide Elemente, ehm, also sowohl das eben, dass ich eigentlich aussah wie eine Asiatin .. eh pechschwarz und gelb, ehm wie auch, dass ich hergezeigt wurde, haben, glaub' ich 'n ganz, äh, sind, sind zwei so mhm Aspekte, die ich dann in meinem Leben, ehm, die in meinem Leben wichtig geworden sind. Denn ich hab' dann ehm ... viele Jahre meines Lebens eben mit dem Theater, mit Theater zugebracht
A.L: Mhm.
Anna Paul: war Theaterschauspielerin. Und ehm ... hab' hab' also viel mit Bühne zu tun, mmmit mich zeigen in bestimmten Zusammenhängen (atmet durch). Ja“ (Z 3547).
Anna Paul setzt zwei weitere Anekdoten ein, in denen sie, ebenso wie in den ersten beiden Zitaten, wesentliche Bezugsrahmungen für ihr Leben fokussiert und Lebensthemen einführt, die sie in der folgenden ausführlichen Rekonstruktion ihrer Biographie aufgreifen und in einer diachronen Erzählweise differenzieren und herausarbeiten wird. So entwickelt sie den ‚roten Faden' ihrer Erzählung und stellt bereits in diesen ersten Zeilen deutlich dar, was ihre Lebensgeschichte aus heutiger Sicht an Kohärenz bzw. Sinnhaftigkeit für sie birgt.
In der ersten Anekdote, die ich im Folgenden zitiere, geht es im Grunde um die Beziehung zu ihrem Vater, doch sie beschreibt als bedeutsamste Erinnerung die an den Garten. Möglicherweise kommt ihr das Empfinden der Verlusterfahrung und der Trauer des zum Zeitpunkt des Interviews erst kurze Zeit verstorbenen Vaters in der Interviewsituation zu nahe und sie distanziert sich durch ihre Erzählweise ebenso wie sie durch diese auch die hohe Bedeutung für sie ausdrückt. Möglicherweise verbindet sie mit ihrem Vater ein ähnliches Gefühl wie für den Garten: er bietet Schutz, er nährt, dient als Lebensgrundlage. Zudem könnte das Bild der Natur, die so viel größer ist als sie und verwildert, ein Bild für die Spiritualität sein, für das, was sie als Person übersteigt. Auch für diesen Bereich gibt sie ihrem Vater eine maßgebliche Rolle. Über ihn, so erklärt es Anna Paul, ist sie religiös sozialisiert worden.
„und es war so ein ganz schöner verwilderter Garten, den ich auch sehr gut erinnere. Ich bin so ungefähr anderthalb, und er kommt mit, kommt mit zwei großen *Gießkannen. Und ich steh' vor ihm* (dramatisch) und erzähl' ihm irgendwas. Und ehm, dass er – also an diesen Garten kann ich mich noch gut erinnern, obwohl wir da, glaub' ich, nur, obwohl ich da noch sehr klein war. Wir haben, ich war da nur, bis zweieinhalb oder so haben wir da nur gelebt. Aber diese … *eh* (kratzig) ich hab' so eine Erinnerung an so ganz große Blätter, unter denen ich saß. War wahrscheinlich Rhabarber oder so.“ (Z 51-59).
In dem nun folgenden Ausschnitt präsentiert sie einen weiteren Bereich, der für ihr Leben zentral werden soll und der es in der Erzählzeit nach wie vor ist. Sie kommentiert die von ihr geschilderte Szene aus der Erzählzeit, dass sie sich selbst toll finde und unterstellt sich rückwirkend eine hohe Selbstzufriedenheit. Diese Zufriedenheit, die sie durchs Singen erfährt, kann sie zu dem Zeitpunkt noch nicht empfunden haben bzw. nicht erinnerbar empfunden haben. Sie weiß nur mittlerweile aus ihrer Lebenserfahrung und aus dem Bezug der aktuellen Lebenssituation, dass sie das Singen sehr erfüllt.
„Und ehm meine Eltern also immer abwechselnd dann an meinem Bett saßen, beide sehr müde (lacht), und ehm .. ich war aber sozusagen nicht dazu zu bewegen zu schlafen. Ich hatte einfach einen anderen Rhythmus. Und sie waren dann – mir ging's gut –, aber sie waren dann beide so entkräftet (lacht) *dass ich jede Nacht da in meinem Bett gewacht hab'* (lachend), ehm, dass sie dann irgendwie den Arzt gebeten haben, mir ein Schlafmittel zu geben, irgendwann, damit ich wieder sozusagen wieder in 'n richtigen Rhythmus komme. Und das ist dann irgendwann auch passiert. *Aber, ehm, ich find' diese Szene einfach toll, wo ich da eben sozusagen mit mir selbst sehr zufrieden in diesem Bett, diesem Paidi-Bett* (amüsiert), ehm – ich kann mich noch genau dran erinnern, wie das sich auch so bewegt hat, äh, so leicht so knarzt, und dazu eben alle Lieder, die ich konnte, eben gesungen“ (Z 73-85).
In sämtlichen Präsentationen der Geschichten aus der Zeit ihrer Geburt bis in die ersten Lebensjahre fällt sie in eine Erzählweise, z.B. durch den Wechsel in das Präsens, als sei sie dabei gewesen, als hätte sie diese Geschichten tatsächlich aus ihrem erinnerten Erleben erzählt und als erlebe sie die Erfahrung jetzt. Defacto ist es ausgeschlossen, dass es ihre eigenen Erinnerungen sind und für die biographisch etwas später angesiedelten Anekdoten ist es in der konkreten Form auch eher unwahrscheinlich. Möglicherweise sind diese Anekdoten über das wiederholte Erzählen in der Familie zu einer scheinbaren Erinnerung geworden, denn so klingt es, wenn Anna Paul darüber erzählt (z.B. auch in der Formulierung, dass diese Geschichte(n) gerne in der Familie erzählt wurden). [1] Die Qualität der Dramatisierung, des anekdotenhaften Erzählens, weist auf eine hohe Bedeutung im Sinne einer Schlüsselerzählung für sie in der Erzählzeit dieser Präsentationsteile hin.
Mit dem letzten oben zitierten anekdotenhaften Ausschnitt beendet Anna Paul den Eingangsteil, die Präambel, ihrer Stegreiferzählung und hat die wesentlichen Bereiche, die für sie in ihrem Leben der Erzählzeit von Bedeutung sind, aufgegriffen und zusammengefasst. Damit hat sie einen Vorgriff, eine Art Zusammenfassung ihrer Lebensthemen über Bilder, über Geschichten an die Zuhörerin präsentiert und diese für sich selbst sozusagen vergewissert. Damit ist der Erzählbogen ihrer persönlichen Entwicklung bis in die Gegenwart vorgezeichnet und angekündigt und wird mit einer hohen Wahrscheinlichkeit in der differenzierten Rekonstruktion ihrer Biographie nachvollziehbar und bestätigt werden.
Familiäre Einbindung
Anna Paul wird 1959 als zweite von insgesamt drei Schwestern ehelich geboren. In ihren ersten Lebensjahren lebt die Familie in einem Haus mit einem großen Garten und zieht dann in eine Wohnung an den Rand einer Großstadt, auf die der Vater durch seinen Beruf als verbeamteter Lehrer Anspruch hat.
Beide Elternteile Anna Pauls stammen aus Flüchtlingsfamilien. Die Eltern lernen sich kennen, nachdem sie mit ihren Familien nach ihrer Flucht nach Deutschland in derselben Region angesiedelt werden. Beide Großfamilien, traumatisiert durch den Krieg und die Flucht, nach Halt und Geborgenheit suchend, bauen enge Bezüge zueinander auf. Anna Paul fühlt sich eher eingeengt, ist gleichzeitig jedoch auch identifiziert mit dem Status der ‚Flüchtlingsfamilie', wie durch die Formulierung „als wir geflohen waren“ (Z 164) deutlich wird. Ihre Eltern kannten sich zum Zeitpunkt der Flucht noch gar nicht, d.h. sie war auch noch nicht geboren. Spätestens als sie in der Pubertät ist, beginnt ihre Ablösung und sie ist in sich selbst sicher genug, um sich die Freiheit zu nehmen, Menschen danach auszusuchen, ob sie sie wirklich mag und interessant findet. Anna Paul vermutet sogar, dass ihre Mutter sich auch nicht so wohl fühlt mit der engen Anbindung an die Großfamilie, ohne dies jedoch näher zu erläutern. Der Gedanke amüsiert sie jedoch, wie sich durch ihr Lachen zeigt. „Und ich hab' vermutet, auch bei meiner Mutter sehr stark, dass es auch nicht die Leute waren, die sie *so wahnsinnig interessiert haben! Also – ja.* (lachend)“ (Z 174-176).
Die Beziehungen zu den Eltern und insbesondere die Beziehung zum Vater als bedeutsamen signifikanten Anderen und die Hinführung zur Religiosität
Anna Paul beschreibt die Beziehung zum Vater bedeutend positiver als die Beziehung zur Mutter, durch die sie mit Literatur vertraut gemacht wurde. Mit ihrem Vater sind für sie die Bereiche Musik, Lehren und Religiosität verbunden, die sämtlich eine herausragende Bedeutung in ihrem Leben haben.
„Und, ehm, ja, mein Vater war ein war ein sehr musischer Mensch, Musiker, .. Geiger, Komponist, und ehm wir sind also auch einfach mit Musik aufgewachsen. War für mich sehr, sehr wichtig. Musik und mit Literatur. Meine Mutter ist sozusagen die Literaturfrau und mein Vater der Musikmensch gewesen. *Mhm* (bestätigend, zustimmend). Und das hat ehm, ja, das .. warn so ganz tolle Geschenke auch für mein Leben. Und auch ehm 'ne Religiosi*tät* (Stimme geht rauf). Also mein *Vater* (Stimme geht rauf) war sehr, sehr, sehr religiös, eh Protes*tan*t, evang*elisch* (2 x Stimme hoch), und hat auch .. ungefähr zu der Zeit, wo ich so Mitte dreißig, Mitte, Ende dreißig war, angefangen, auch als Laienprediger zu arbeiten .. und, ehm, auch da sozusagen auf so
‚ne, in so ‚ne Lehrereigentlich – mein Vater war auch gleichzeitig äh Schullehrer. Also das Lehrersein liegt auch sozusagen in unserer Familie. Aber auch sozusagen im kirchlichen Bereich, im religiösen Bereich also auch äh .. einer zu sein, *der da was erzählt* (jedes einzelne Wort sehr betont), was vermittelt“ (Z 85-99).
Anna Paul macht hier einen zeitlichen Vorgriff, da sie den Bereich des Lehrens in der Präambel noch nicht erwähnt hat, der jedoch auch signifikant für ihr späteres Leben und im Hinblick auf die inhaltliche Ausrichtung des Interviews ist. So führt sie diesen Bereich hier ein und positioniert sich so der Forscherin gegenüber, dass sie erklärt, dass sie die ‚Veranlagung' zum Lehren von ihrem Vater bekommen hat, als sei dieser Weg biographisch bereits vorgezeichnet gewesen und als sei es auch nicht originär ihre Kompetenz, sondern etwas, das sie vom Vater ‚mitbekommen' hat. Schon zu Kinderzeiten, so reflektiert Anna Paul weiter, befindet sie sich in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem evangelischen Glauben, der ihr durch den Vater repräsentiert wird. Man könnte auch formulieren: der protestantische Glaube ist der Vater. Sie sucht nach Vorbildern und findet ausschließlich männliche, zu denen sie keine identifizierende Beziehung entwickeln kann. (Selbst) Gott(vater) wird männlich definiert und in diesem Gottesbild findet sich das Mädchen nicht wieder.
„… (6) Mhm, ja, aber was mir, was mir schon ganz früh an ehm christlichen ehm Zusammenhängen nicht gefallen hat, war – vor allen Dingen halt auch im Protestantismus, wo's ja nicht mal die Maria gibt –, dass es da gar keine Frauen gab. Also ich bin schon als Kind, war ich halt viel in der Kirche, und mein Vater ist natürlich immer, wir sind immer sonntags in die Kirche gegangen, Kindergottesdienst, .. der auch eh unterschiedlich gut war. .. () Da saß ich dann in Kirchen, die sah man da ja jede Woche, und da waren immer nur Männer..bilder. Also *Gott Vater und dann die Apostel* (gedehnt) und so weiter, aber .. *keine Frauen*! (erhöhte Stimmlage) .. Und das hat mich immer schon gestört eigentlich. Also .. auch mit dem Jesus, da konnt' ich nie so richtig wat anfangen. Ehm .. *Der war mir nicht* (nachdenkend), also da kriegt' ich irgendwie keinen Bezug zu dem Jesus. …“ (Z 120-131).
Sie sucht nach Antworten auf die für sie drängenden existenziell-religiösen Fragen (wie im obigen Interviewausschnitt eingeführt) und greift nur ins Leere bzw. spürt, dass sie die Antworten, die sie bekommt, nicht wirklich befriedigen. So beschreibt sie erinnernd bereits in den Jahren, in denen der Kindergottesdienst ein sonntäglicher Pflichtbesuch ist, durchaus ihr inneres Ringen und eine resultierende innere Distanzierung vom evangelischen Glauben. Rückblickend haben als Jugendliche für Anna Paul die Predigten ihres Vaters eine besondere Bedeutung, mit denen sie sich intensiv auseinander setzt und die sie differenziert erinnert als zum einen sehr persönlich und zum anderen für sie zu wenig mutig. Die persönliche Seite jedoch, mit der er sich immer wieder auch verletzlich macht und zeigt, erlebt Anna Paul sowohl für die erzählte Zeit als auch in der Reflexion der erzählenden Zeit als etwas Vorbildhaftes. Durch die stark ausgeprägte Religiosität ihres Vaters (s.o.), der evangelisch ist, ist der Alltag in der Familie entsprechend ausgerichtet und geprägt. Allerdings erinnert Anna Paul auch oder gerade Transzendenzerfahrungen jenseits der evangelischen Glaubens.
„da war ich vielleicht so acht oder neun – … und dann in den Himmel geschaut hab' und … also ich so wahnsinnig *gestaunt habe, dass ich hier stehe und diesen Himmel sehe, der so unermesslich ist, und wieso ich mich spüren kann* (staunend), also dass ich ich bin, und da ist diese riesige Weite. Was das bedeuten soll. … (11)“ (Z 155159).
Anna Paul fällt in der Erfahrung ihres Staunens über sich selbst in der Weite, die sie empfindet, im Erzählvorgang in das Präsens, holt also die erzählte Zeit in die Erzählzeit. In der Erfahrung, die sie unmittelbar zur Verfügung stellt, drückt sie die Bedeutsamkeit dieser Erfahrungsebene für sich selbst aus und scheint dadurch wirklich berührt, was durch die sich anschließende lange Pause von ca. 11 sec. zu vermuten ist. In dieser Episode wird eine weitere Schlüsselerfahrung kommuniziert, eine Erfahrung, die sich in Anna Paul zutiefst eingeprägt hat, die sie noch in der Erzählzeit, über 40 Jahre später, staunen lässt. Die sich bereits in der Präambel angekündigte intensive Auseinandersetzung mit Religiosität für ihr Leben wird an dieser Stelle als ein Handlungsschema einer spirituell Suchenden konstituiert, das sich nur mit kurzen Unterbrechungen im Leben Anna Pauls bis in die Erzählzeit fortsetzen wird.
Die Mutter wird nur kurz erwähnt, als sozusagen ‚zuständig' als Hüterin für den Bereich der Literatur und der Vermittlung von literarischer Bildung in der Familie. Anna Paul empfindet sie als „ziemlich heftig“ und „unberechenbar“ in ihrem Temperament (Z 196ff). Sie reflektiert diese Qualitäten aus der gegenwärtigen Erzählperspektive so, dass ihre Mutter vieles, was sich in ihr bewegte, nicht ausleben konnte oder auch wollte und erklärt diese Eigenschaften letztlich mit einer Unzufriedenheit in der eigenen Lebenssituation der Mutter begründet.
„Und meine Mutter war als ehm jüngere Frau 'ne *ziemlich ehm heftige* (etwas zögernd) Mutter, also die sehr … – *ja, was soll ich sagen? Äh* (nachdenklich) –, auch unberechenbar war, also durch ihr Temperament, durch ihre, ja, denk' ich, selber auch viele Sachen, die sich in ihr bewegt haben, die sie eh nicht wirklich auch ausleben konnte oder die sie auch nicht wirklich verfolgt hat, ehm, wusste man nie: Gibt's jetzt Ärger, oder gibt's jetzt, ehm, Interessantes zu hören, wenn man des und des macht? Also, so, man musste immer so ein bisschen auf dem (qui vive) sein“ (Z 196– 203).
Bereits in einem der vorherigen Abschnitte, in dem Anna Paul fragte, wo die Frauen seien, wird deutlich, dass der mütterliche Aspekt in ihrem Leben in der Kindheit auch rückblickend aus der Erzählzeit nicht ausgefüllt war. Die Biographieträgerin hebt die Frage nach dem Weiblichen, Mütterlichen zunächst auf eine religiöse Ebene, bevor sie sich in ihrer Stegreiferzählung der persönlichen Mutter zuwenden kann und formulieren kann, dass die Mutter für sie als Kind nicht zur Verfügung stand, die wohl mit sich selbst beschäftigt war, mit eigenen Problemen. Anna Paul führt die Thematik ihrer Mutter nur nach und nach ein, eher vorsichtig, zurückhaltend. In einer früheren Zeile formuliert sie, die Mutter sei schon seit 30 Jahren Invalidin (Z 111), die sie allerdings dem Vater in den Mund legt, als wäre es ihr selbst in der Erzählzeit noch unangenehm oder ein Tabu, darüber zu sprechen.
Schule
Die Phase des institutionellen Ablaufmusters der schulischen Laufbahn vom Beginn der Grundschule bis zum erfolgreich absolvierten Abitur läuft insgesamt gut. Anna Paul fällt Schule leicht und sie gibt ihr keine größere Bedeutung. Sie formuliert:
„Sonst war Schule für mich nicht so … kein Problem, nicht schwierig, aber auch nicht jetzt irgendwas, was mich jetzt *nachhaltig wahnsinnig beeinflusst hätte. Also schon manche Sachen, so* (lachend) zwei, drei Lehrer oder so, ehm, aber .. auch mein .. w-was ich gelesen hab', mein ganzer, sag' ich mal, wirklicher Input, was, der mich wirklich jetzt äh geprägt hat, das war alles außerschulisch. … Doch, das Atommodell!“ (Z 1155-1160).
Herausragend ist das beste Mathematik-Abitur ihres Jahrgangs, das sie schreibt, weil ein Nachhilfelehrer, den die Eltern engagieren, da sie nur im mittleren Notendurchschnitt, d.h. befriedigend, liegt, ihr höhere Mathematik – wozu das im Zitat erwähnte Atommodell gehört – nahe bringt. Diese mathematischen Theorien werden eingesetzt, um das Weltall zu erklären, was sie sehr fasziniert und interessiert. Belastend ist rückblickend der Druck, den Anna Paul seitens der Eltern, insbesondere der Mutter, durch den Vergleich mit der älteren Schwester empfindet. Aufgrund dessen gibt es häufiger Streitigkeiten zwischen ihnen.
„Wir waren beide sehr gute Schülerinnen, meine Schwester noch, äh, klüger als ich. Aber es ist uns sehr leicht gefallen im Gymnasium, und, ehm – gut, es gab auch, sagen wir, von meiner Familie her auch sehr hohe Erwartungen an uns, also Leistungserwartungen, die es mir schwerer gefallen ist, also das zu erfüllen. Nicht, weil ich weniger intelligent gewesen wäre, sondern weil ich einfach eine etwas renitente Haut bin. (Lacht) *Ich war so die, die Rebellin* (lachend), und ich hatte keine Lust, und ich hab' mich mit meiner Mutter immer wahnsinnig gefetzt. Und eh ich hab' auf den, auf diesen Druck, eh, der dann auch so ausgeübt wurde – *Ja, deine Schwester kann doch auch mit lauter Einsen nach Hause kommen. Wieso hast du ‚ne Zwei in Latein?* (Nachmachstimme, amüsiert) –, ähm, hab' ich so mit Verweigerung ehm reagiert, also …“ (Z 180-192).
Anna Paul beschreibt hier eindrücklich die Konflikte, die sie als Jugendliche mit ihrer Mutter erinnert. Es entsteht der Eindruck eines Machtkampfes. Anna Paul präsentiert sich selbst in einer oppositionellen Rolle der Mutter gegenüber und dass sie noch heute diese Position genießt, da sie wohl den Machtkampf gewonnen hat. Sie lacht darüber und holt dies durch das In-Szene-Setzen der Mutter, in dem sie in deren Rolle schlüpft und Sätze als ihre Mutter formuliert, in die Erzählzeit. Dies bestärkt den Eindruck, dass sie sich noch in der Gegenwart mit der Rolle der Rebellin, die sie sich selbst zuschreibt, identifiziert.
Erste Schritte zur Loslösung von den Eltern
Gemeinsam mit ihrer älteren Schwester sucht Anna Paul als Jugendliche nach sozialen Welten außerhalb des elterlichen Wirkkreises, in denen sie sich ausdrücken und entfalten kann, und findet diese insbesondere im Theater und in der Musik. Sie gründet mit ihrer Schwester ein eigenes Theaterensemble am Gymnasium. Bei der Gründung einer eigenen Theatergruppe geht es Anna Paul nicht nur darum, gemeinsam Theater zu spielen, sondern es geht auch darum, einen „Gegenentwurf, wie man auch noch miteinander sein kann“ (Z 242f) als ein Handlungsschema zu entwickeln.
Dieser erste Schritt, sich von den Eltern zu lösen, findet allerdings durch ein Medium statt, das sie sehr intensiv über die Eltern kennen gelernt hat. Insbesondere der Vater steht für Theater, er spielt mit seinen Schülern Theater, inszeniert das jährliche Schultheaterstück, für das seine Frau die Verse schreibt und er die Musik. In der Familie spielen die Cousins und Cousinen gemeinsam Theater und die Ergebnisse werden den Großeltern präsentiert. In der Kleinfamilie selbst gibt es, durch die Mutter angeregt, eine Phase, in der gemeinsam Shakespeare-Stücke gelesen werden. Ein Theaterabonnement ist in der Familie Anna Pauls obligatorisch.
Musik ist als Jugendliche insgesamt wichtig für Anna Paul. Neben Gesang spielt sie intensiv Klavier, was die Eltern dazu veranlasst, deren Berufswunsch, ein Klavierstudium, an Anna Paul heran zu tragen. Dies entspricht absolut nicht Anna Pauls Wunsch und dem, wohin es sie zieht, nämlich weg von der Leistungsorientierung, die im Perfektionismus gipfeln würde, denn genau so erlebt sie das Klavierspielen, wenn sie es zu ihrem Beruf machen würde. Sie spricht von „ganz, ganz starken Versagensängsten“ (Z 250) und „Drill“ (Z 253) in diesem Zusammenhang. Hier erscheint der Gegensatz ihrer Vision vom gemeinschaftlich Kreativund Schöpferisch sein und dem Leistungsanspruch der Eltern deutlich.
Wut als Kraftquelle
Anna Paul erinnert, als Kind, als Pubertierende bis zum Ende ihrer Theaterzeit immer wieder starke Wut empfunden zu haben. Die Wut ist ein „ganz wichtiger Motor“ (Z 207f), „ein ganz wichtiger Lebens-, Lebensenergiespender“ (Z 208),
„aufbrausend“ (Z 210), eine „sehr vitale Energie“ (Z 211),
„also der Kern davon ist 'ne sehr äh vitale .. vitale Kraft, ehm …, auch so was, ja, wie so was Unzerstörbares in sich zu spüren, *was sich nicht einmachen lässt so …* (nachdenklich) Also sozusagen, wie so ‚n Kern davon ist, wenn, wenn das ganze Auf-
mandeln und das ganze Aufplustern drumrum so ‚n bisschen, so ‚n bisschen wegfällt“ (Z 223-227).
Die Wut scheint wichtig für sie, um sich selbst durchzusetzen. Wut ist wichtig, dem Empfinden, ungerecht behandelt zu werden, etwas entgegensetzen zu können, sozusagen durch ihre Wut für Gerechtigkeit zu sorgen. Ein drittes Thema, um das es bei der Wut geht, ist die Empfindung, nicht genug Platz zu haben (Z 229f). Eine Schattenseite der Wut ist jedoch das Leid, das sie sich selbst durch diese zufügt.
Durch die Wut kann Anna Paul sich selbst in ihrer Essenz, in ihrem Kern oder auch in ihrem Wesen und Wert spüren und die Wut wie einen Wegweiser nutzen, um zu spüren, wo sie sich von sich selbst entfernt, sicher insbesondere als Kind auch durch die Vorgaben der Eltern. Mit der Wut, die sie sprachlich im Präsens einführt, untermauert Anna Paul ihre Identifikation als Rebellin, auch in Abgrenzung von der eher depressiven Schwester. Für sie scheint die Wut nach wie vor wichtig zu sein, sie scheint sich nach wie vor mit ihr zu identifizieren, letztlich mit der vitalen Kraft, die sie aus ihrer Sicht auch noch in der Erzählzeit darin sieht.
Berufswahl und daraus resultierende Konflikte mit den Eltern
Anna Paul trifft im Rahmen des institutionellen Handlungsmusters der Berufswahl die Entscheidung, sich dem Leistungsanspruch der Eltern nicht zu beugen, sondern sich durch eine Schauspielausbildung einem Bereich zu widmen, den sie als „angstfreie Sphäre“ erlebt (Z 258). Die Biographieträgerin präsentiert sich rückblickend für diese Phase der erzählten Zeit mit einer Treue zu ihren persönlichen Werten und bleibt in Bezug zu ihrer Mutter auch hier in der Rolle der Rebellin, d.h. sie ist noch gebunden an die Mutter.
Die Entscheidung zur Schauspielausbildung erinnert Anna Paul als eine sehr kritische Phase in den Beziehungen zu den Eltern. Der Kontakt zwischen Eltern und Tochter bricht so gut wie ab. Anna Paul sieht aus der aktuellen Perspektive Ängste der Eltern, dass sie als Schauspielerin kein adäquates Einkommen zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes wird erzielen können. Auch wenn im Alltag der Familie Theater einen wichtigen kulturellen Bildungsbereich darstellt, scheint es nicht vorstellbar, dass jemand aus ihrem Umfeld in diesem Bereich tatsächlich beruflich tätig sein könnte. Aber für Anna Paul ist klar, dass sie Künstlerin und nicht Lehrerin werden will, obwohl sie selbst gar nicht so recht weiß, was der Beruf der Schauspielerin wirklich bedeutet.
„Also ich hatte überhaupt keine Vorstellung davon, was das für ein Beruf ist. Wie gesagt, wir kannten niemanden, der Schauspieler oder Schauspielerin war.“ (Z 1204ff). Zu diesem Zeitpunkt macht sie sich über eine mögliche existenzielle Absicherung noch keine Gedanken. Für sie steht eine andere Ausrichtung im Mittelpunkt, an der sie sich orientiert. Es ist der Wunsch sich zu entwickeln und sie wünscht sich dies zu dem Zeitpunkt durch die Schauspielausbildung (was sie zu einem späteren Zeitpunkt relativieren wird). Grundsätzlich ist sie der Ansicht, dass es legitim ist, aufgrund des Wunsches nach Entwicklung den Beruf zu wählen. Ebenso hält sie es für legitim, das gesamte Leben nach diesem Bedürfnis auszurichten.
„Aber als die dann, meine Eltern, mitkriegten, dass ich das äh mir überlege, beruflich zu machen, das fanden sie ganz furchtbar. Also, gab einfach niemand, den sie kannten, der äh was mit Theater zu tun hatte, und sie hatten tendenziell, glaub' ich, einfach Angst, dass das also – konnten sich nicht vorstellen, wie man da leben, wie wie was das für ‚n Leben sein soll. Und dass ich (irgendwie irgendwie) Sie konnten sich nur vorstellen, dass ich Klavierlehrerin werde, *aber das fand ich, also, das kam für mich nun gar nicht infrage!* (lachend) Ich wollte Künstlerin sein. Und, äh, … ja, und .. Ja, und irgendwie Meins finden auch, also so irgendwie – damals hatt' ich überhaupt keine Lust, Unterricht, also, so was wär' mir überhaupt gar nicht in, ich fand das ganz furchtbar! Ich wollte nie Lehrerin sein in dem, in der, in dem Alter, sondern *selber Künstlerin sein, selber, selber was entwickeln und was erfahren und in dem Prozess sein und mich erweitern und mich, ehm, mich entwickeln und so.* (raunend) Das war für mich war für mich ganz, ganz wichtig, also so ‚ne Idee von: Ich kann mich entwickeln“ (Z 281-295).
Neben dem Verlaufskurvenpotential, das sich hier durch die Zuspitzung der geschilderten kritischen Beziehung zwischen Anna Paul und ihren Eltern entwickelt, wird eine andere Entwicklungslinie, sehr energisch, emotional und sowohl durch wiederholte Abgrenzungen als auch durch positive Formulierungen sichtbar: der Wunsch sich zu entwickeln. Dies kann sowohl als ein Handlungsschema interpretiert werden, als auch als Hinweis, dass, wenn es Anna Paul gelingt, sich loszulösen von den elterlichen Vorstellungen und die Krise bewältigt wird, ein Wandlungsprozess eintreten könnte.
Anna Paul kann konkret benennen, was sie zur Unterstützung ihres Entwicklungsprozess benötigt, nämlich die Begleitung und Anleitung eines Lehrers. Sie formuliert hier: „damals hatt' ich natürlich immer das Männliche: ich will einen Lehrer finden.“ (Z 298f). In dieser sprachlichen Formulierung wird ein Widerspruch deutlich, der Anna Paul in der Erzählzeit über sich selbst wohl nicht bewusst ist. Dass sie ‚natürlich' einen männlichen Lehrer gesucht hat im Sinne von selbstverständlich, erscheint der Zuhörerin als Adressatin dieser Information nicht so selbstverständlich, da Anna Paul für sich bereits in jüngeren Jahren, seit der Pubertät in Anspruch genommen hat, nach weiblichen Vorbildern zu suchen. Es wird so sein, dass es diese Suche gab, aber sie scheint zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel Kraft gehabt zu haben, noch nicht wirklich vorstellbar gewesen zu sein. Sie sucht etwas und weiß noch gar nicht, ob es dies gibt. Hier wird ihre Identifizierung mit dem Männlichen als Autorität, die Bindung an den (Gott)Vater deutlich, die stärker gewesen zu sein scheint, als sie es sich aus heutiger Sicht selbst zugestehen kann.
Doch zunächst macht Anna Paul die Erfahrung des Scheiterns: bei der Schauspielschule ihrer Wahl wird sie trotz einer wiederholten Aufnahmeprüfung nicht angenommen. Dennoch stellt sie ihre Berufswahl nicht in Frage. Dies zeugt von einem stabilen Selbstvertrauen und von einem starken Willen.
Anna Paul geht in eine andere, für sie fremde Stadt und erlebt dort eine von viel Einsamkeit geprägte Zeit. Die Theaterwelt, in die sie dann doch Einlass bekommt, enttäuscht sie. Der Wunsch, einen Lehrer als Vorbild zu finden, allerdings mit wenig konkreten Vorstellungen darüber, was sie eigentlich sucht, wird ebenfalls nicht erfüllt.
Zu Beginn ihrer Ausbildung ist Anna Paul das erste Mal damit konfrontiert, selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen zu müssen. Zwar muss sie noch kein eigenes Geld verdienen, weil ihre Eltern ihr trotz der Ablehnung ihrer Berufswahl monatlich 400 DM geben. Dies ist relativ wenig Geld, doch Anna Paul kommt damit zurecht.
Gegen Ende der Schauspielausbildung nimmt sie ein erstes Engagement an und kann so zusätzliche Einnahmen erzielen. Als die das erste Gehalt ausgezahlt bekommt, beschwert sie sich bei der Lohnbuchhaltung, weil die Summe viel niedriger ist als die vereinbarte, und lernt so den Unterschied zwischen Bruttound Nettogehalt. Sie beschreibt sich selbst rückblickend als „ein bisschen weltfremd“ (Z 1249f) und distanziert sich von sich selbst durch ihr Lachen und bleibt in der wieder einmal anekdotenhaften Formulierung, die die hohe Bedeutung für sie ausdrückt, in der Vergangenheitsform. So positioniert sie sich in ihrem Erleben in der Erzählzeit abgegrenzt, vielleicht eher als in der Welt angekommen, und scheint diese Entwicklung für sich als wichtig zu empfinden.
„Aber das ist auch, ich hatte auch da wenig .. Vorstellung davon, was das bedeutet auch, eigenes Geld zu haben, oder irgendwie so. Ich war so ein bisschen weltfremd, ja? Ich weiß noch (lacht), *als ich mein erstes Gehalt kriegte* (mit leichtem Lachen in der Stimme), ehm, war ich ganz erbost, weil es jetzt hieß, ich krieg' 1800 D-Mark, damals als Anfängerin. *Und dann waren aber nur 1200 Euro auf meinem Konto!* (gespielte Empörung). Und da bin ich dann hin zu der Zahlstelle und hab' gesagt: *Wo ist das
Geld geblieben??!!* (gestiegene Empörung) (lacht). *Ja, Steuern und Renten!* (helle Stimme) *Ich will doch keine Rente, ich will das Geld jetzt!!* (Empörung) (lacht) *Die haben sich totgelacht!* (lachend), (lacht, zieht Atem ein). Ja. Ttt (Nachlachen)“ (Z 1247-1258).
Anna Paul erlebt in ihrer Ausbildungszeit zur Schauspielerin das erste Mal in ihrem noch jungen Leben auf ganz existenzielle Weise, was es an Herausforderungen bedeuten kann, Konsequenzen für eigene Lebensentscheidungen zu tragen und existenziell auf sich gestellt zu sein. Sie lernt die kulturelle Welt von einer ganz neuen Seite kennen. Es ist nicht mehr die Seite, mit der sie durch ihr Elternhaus vertraut gemacht wurde, in der Zugang zu Kultur ein Privileg einer bestimmten sozialen Schicht ist, sondern es ist die Seite, auf der kulturelle Bildung ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen ist, für das er oder sie gleichzeitig hart arbeiten muss.
Erste Erfahrungen mit Partnerschaften und Unfalltod ihres Freundes
In Anna Pauls Ausbildungszeit fallen die ersten Erfahrungen mit Liebesbeziehungen mit Männern. Diese erlebt sie als eine „positive Kraft“ (Z 316 und 317). Allerdings macht sie auch Erfahrungen mit „frauenverachtenden .. eh Situationen, Erlebnissen“ (Z 319), die sie zum Nachdenken anregen und rückblickend den Blick öffnen für geschlechtsspezifische Machtstrukturen und Diskriminierung von Frauen bzw. dem Weiblichen. Durch ihre engere Freundschaft zu einem jungen Mann, den Anna Paul während der Schauspielausbildung kennen lernt, erfährt sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen großen Verlust: der junge Mann verunglückt tödlich und Anna Paul gerät in eine tiefe Krise:
„*Und das hat mich unglaublich aus der Bahn geworfen* (Betroffenheit von ihr ist spürbar) Also da .. äh, ja … Das hat mich sehr, sehr wirklich ins Trudeln gebracht, und ich wäre fast auch nicht mehr an die Schauspielschule zurückgegangen. Also, da war ich dann auch irgendwie mit, mit so ‚n paar Aussteigern zusammen und, und äh bin so 'n bisschen abgedriftet irgendwie so. Ehm .., also hab' so wie .. meinen *Halt verloren* (leicht verwundert) ganz stark“ (Z 354-360).
Noch in der Erzählzeit wird ihre Verwunderung über die Intensität der Krise nach dem Tod ihres ersten Freundes spürbar. Durch die Formulierung, dass sie ins Trudeln geraten sei, kündigt sie die Entwicklung eines Verlaufskurvenprozesses an.
Doch diese wird vorübergehend abgefangen, weil sie das Rollenangebot eines Schauspiellehrers annimmt und es ihr dadurch gelingt, sich zu stabilisieren und die Schauspielausbildung fortzusetzen.
Erfahrungen als Schauspielerin
Nach erfolgreichem Abschluss der Schauspielausbildung findet Anna Paul zwar ein Theaterengagement, beschreibt retrospektiv jedoch zunächst die Erfahrung eines Praxisschocks im Theaterbetrieb. Und das liegt daran, weil sie sich weiterhin nicht gesehen, nicht eingebunden fühlt, kein Interesse an sich selbst wahrnimmt. Sie sieht, dass es einige Ensembles in Deutschland gibt, in denen anders gearbeitet wird, in denen es eine Kontinuität gibt, durch die auch Beziehungen aufgebaut werden, aber ihr gelingt es nicht, in einem solchen Ensemble aufgenommen zu werden. Ihr ins Leere laufendes Bedürfnis nach „bezogen sein“ (Z 407) frustriert und enttäuscht sie. Auch an dieser Stelle wird die Signifikanz dieser kritischen Erfahrung, die zu einem weiteren verlaufskurvenartigen Prozess führt, für Anna Paul wieder durch den sprachlichen Wechsel in die Jetzt-Zeit sichtbar und dass diese Einstellung, nicht ohne ein Empfinden von Bezogenheit leben zu können, auch heute noch für sie gelten.
„Und das hab' ich schon, hab' ich also ganz schnell gemerkt, *das find' ich ganz furchtbar! Also das, d-da, das, da kann ich auch im Prinzip nicht wirklich nicht wirklich damit leben* (leicht ungläubig). …Und es hat es war eine sehr schwierige, ehm, Situation. Weil auf der einen Seite wollt' ich gern im Theater bleiben und fand den Beruf auch ganz toll. Aber ich hab' gemerkt, also ich, ich kann nicht ohne diese, also ich brauch' irgendwie 'n Bezug“ (Z 399-405).
Anna Paul beschreibt einen Konflikt, den sie in ihrer Arbeit am Theater erlebt, der so tiefgreifend ist, dass sich bereits an dieser Stelle andeutet, dass sie ihn nicht auflösen wird können, obwohl sie das zunächst nicht glauben will und möglicherweise auch noch in der Erzählzeit nicht wirklich damit abgeschlossen hat. Diese Vermutung entsteht dadurch, dass sie den Satz, damit könne sie nicht leben, mit einem ungläubig klingenden Tonfall im Präsens formuliert. Ihr ursprüngliches Motiv für diese Berufswahl, das Bedürfnis sich zu entwickeln, schätzt sie als nicht realisierbar ein, und damit ist die Berufsentscheidung an dieser Stelle in ihrem Erleben eine Fehlentscheidung und bringt sie in einen inneren Konflikt. Aus heutiger Sicht sieht sie auch,
„dass ich diese ganze Theatereh zeit auch, ehm, da hab' ich einfach das Theater sozusagen als ehm .. Religionsersatz benutzt. Das war für mich, also – Theaterkunst war für mich wie Religion. Das wusst' ich aber damals nicht, weil ich damals mit *Religion nichts am Hut hatte* (amüsiert) (atmet ein). Aber was ich eigentlich, wenn ich im Nachhinein drüber nachdenke, was ich davon erwartet hab', was das Theater für mich hätte sein sollen, das war eigentlich, das ist eigentlich der Anspruch an ‚ne Religion. Und, ehm, na ja, es ist kein Wunder, dass ich da ‚n bisschen enttäuscht wurde, mhm, und das nicht gefunden hab', was ich mir da so vorgestellt hab'“ (Z 304-312).
An dieser Stelle distanziert Anna Paul sich in der Erzählzeit von ihrer Haltung und ihren Erwartungen, die sie in die erzählte Zeit zurück projiziert. Sie kann heute sehen, dass sie ein Bedürfnis hatte, welches sie zur damaligen Zeit nicht einordnen konnte und deshalb damit in die Leere gelaufen ist. Implizit zeigt sich an dieser Interviewstelle bereits, dass Anna Paul den Verlaufskurvenprozess in eine positive Richtung wird wenden können, weil durch die Reflexion und die gewonnene innere Distanz ein Lernprozess in ihr stattgefunden hat.
Es gibt einen weiteren Punkt, den Anna Paul für sich als kritisch im Rahmen ihrer Schauspieltätigkeit erfährt: es sind die Rollen, die ihr als Frau angeboten werden und das damit für sie transportierte Frauenbild, dem sie sich nicht anschließen mag. Es sind Opferrollen; Frauenfiguren, die selbstzerstörerisch und masochistisch agieren.
„Äh, wenn man eben 'ne junge Frau ist am Theater, dann kriegt man immer diese Rollen, wo dann junge eh Frauen ehm .. sich selbst bezichtigen und umgebracht werden, letztlich. Oder sesich selber umbringen, das ist ja noch viel schlimmer. Also wenn ich mal zusammenzähle, wie viele dieser Rollen ich da gespielt habe, ehm, wie sie alle heißen, Gretchen und Kätchen und Klärchen, und alle sind am Schluss tot. Und werden missbraucht und werden schlecht behandelt, und eben entweder werden sie umgebracht oder sie werden wahnsinnig oder sie bringen sich selber um. *Das geht einem ganz schön .. Also, ich finde* (lachend), des, des des macht echt was eh mit einem, wenn man die ganze Zeit sozusagen mit diesem Rollenmaterial zu tun hat und mit diesen Lebensgeschichten!
A.L.: Mhm
Anna P.: Wo man sich ja auch denkt: Ja, verdammt noch mal! (klatscht in die Hände)
*Also, irgendwie jetzt reicht's mal, ich hab' jetzt keine Lust mehr da drauf! Ja? Wo ist denn jetzt mal 'ne Frau, die mal was anderes macht, Himmel noch mal?* (indigniert, amüsiert)“ (Z 417-433).
„Ganz andere Dimensionen“ (Z 483)
Resultierend aus den Enttäuschungen, die Anna Paul als Schauspielerin erlebt, reagiert sie zunehmend wütend auf die Situation am Theater. Diese Wut, über die sie bereits an früherer Stelle gesprochen hat, kann sie auch hier als Kraft für sich nutzen. In ihrer älteren Schwester, die mittlerweile ebenfalls am Theater tätig ist, findet sie eine Verbündete. Die Schwestern sind sich einig, dass sie das System Theater insgesamt als sehr patriarchal erleben. Anna Pauls bisherige Weltsicht wird in Frage gestellt. Es „ruckelt“, wie sie es beschreibt (vgl. Z 461).
„Ja, und da fing es eigentlich auch so an, dass wir, also dass ich mich auch mit feministischem Diskurs beschäftigt hab' und anfing, also die einschlägige Literatur zu studieren und so weiter und so. Ich dachte, haben sich doch sicher auch noch *paar andere Leute schon mal drüber Gedanken gemacht“ (lacht). Und, ja … und, mhm. … Und das hat natürlich alles unheimlich geruckelt, also da – ne?“ (Z 456-461).
Etwas kommt in Bewegung und es entwickelt sich eine Art kreative Neuorientierung, die als beginnender Wandlungsprozess einzuordnen ist. In feministischen Kreisen finden die Schwester ‚Ihresgleichen' und Anna Paul findet eine neue soziale Zugehörigkeit. Diese innere Ortung und Identifizierung als Feministin lässt Anna Paul wieder Zugang zu ihrer eigenen Kreativität finden. Sie befreit sich aus der Opferrolle und findet ihre Handlungsfähigkeit wieder. Sie beginnt schöpferisch tätig zu werden und selbst zu gestalten, indem sie eigenständig Theaterproduktionen entwickelt. Dadurch macht sie sich unabhängig von den etablierten Theatern und folgende von ihr explorierte Ausrichtung leitet sie in diesem Prozess:
„einen Erfahrungsraum aufzumachen, äh, wo man was erleben kann miteinander, was wirklich über dieses, ja Alltägliche, Kleinkarierte hinausgeht und ehm … man ganz andere Dimensionen auch kennen lernen kann, das der der Vorstellungskraft, des Geistes, Herzens, berührt werden und so. … *Geschichten erzählen, einfach, wirklich Geschichten erzählen auch von Menschen. Das fand ich auch immer schon ganz toll* (leiser und zart). Und mich als Schauspielerin eben auch interessiert, ehm, wie das denn eigentlich *funktioniert* (Stimme geht ‚rauf), *dass man jemand anders spielen kann und was man dazu eigentlich machen muss, also, was da innerlich passiert, wie es denn sein kann, dass man sich in etwas hinein versetzt und sich vollkommen verändern kann* (fragend).
A.L.: Hm, hm.
Anna P.: *Was wie was das über einen selber aussagt, was es über Menschsein aussagt* (fragend)“ (Z 480-494).
Sie stellt Fragen, die sie erforschen möchte, sie nimmt sich an dieser Stelle ernst in dem, was sie wirklich interessiert. Um diese Fragen zu stellen, benötigt sie keine Lehrer, aber sie benötigt Lehrer, um die Antworten zu erforschen und weil es offensichtlich Fragen sind, die sie zutiefst berühren, die nach wie vor wichtig sind, findet sie auch einen Lehrer, der ihr genau in diesem Forschungsprozess zur Seite stehen kann. Sie begegnet einem amerikanischen Schauspiellehrer, der sie eine Zeitlang begleitet und in dem sie die Qualität von Lehrern erfüllt findet, nach der sie sich gesehnt hat. Methodisch vermittelt der Lehrer Anna Paul einen Zugang zur Arbeit mit Sinneserfahrungen, mit der sie selbständig weiter arbeiten kann. Hier findet sie ihre Sehnsucht nach Transzendenzerfahrungen zum ersten Mal im Kontakt mit einem anderen Menschen erfüllt, denn „das geht über äh .. 'ne ganz schöne, interessante Entspannungsphase, wo man lernt, sich zu entspannen und gleichzeitig wach zu bleiben, ... wie bei einer Meditation.“ (Z 514516).
Ebenso lernt Anna Paul in dieser Phase ihren späteren Ehemann Ben kennen. Die Beziehung ist von gegenseitigem Respekt geprägt und von einem gemeinsamen beruflichen und persönlichen Interesse an Stimmarbeit. Das Paar heiratet, als Anna Paul 31 Jahre alt ist.
Sackgasse Theater: „wie wenn man sozusagen im Auto fährt und man schaltet und dann ist Leerlauf“ (Z 579f)
Mit Anfang 30 sieht Anna Paul endgültig keine Perspektive mehr in ihrem Beruf als Schauspielerin. Mit dieser Erkenntnis geht eine tiefe Lebenskrise einher. Der Verlaufskurvenprozess wird wieder virulent.
„Ich weiß gar nicht jetzt, ich kann es gar nicht genau sagen, wie es passiert ist, dass ich zu dem Punkt aber kam, so .. mit Anfang dreißig, dass ich gemerkt hab', das Theater ist 'ne Sackgasse. Also … ich strample mich da ab, ich will dieses, ich will jenes, ich, äh, bemüh' mich wahnsinnig, und manches gelingt, vieles gelingt aber nicht, und ich hab' das Gefühl, es ist ‚ne echte Sackgasse. Ich komm' .. nicht .. wirklich .. weiter. Und ich hatte damals überhaupt gar keine wirkliche religiöse ehm Anbindung. Ich hab' aber jetzt in in alten Tagebüchern noch mal gelesen, dass ich irgendwie immer Gebete geschrieben hab. Ehm … Das war mir vollkommen entfallen. Also hab' ich jetzt neulich, als ich da irgendwie in meines Vaters Sachen auch rumgestöbert hab', noch so Sachen gefunden, .. kann mich aber nicht erinnern, dass ich irgendwie 'ne, also 'ne Vorstellung hatte, wer wa wer dieser Gott jetzt nun ist, zu dem ich da jetzt bete. Also das, also kann ich mich nicht mehr dran erinnern, dass mir das *klar gewesen wäre* (mit leichtem Lachen) äh, also irgendwie so was Vages, also dass man beten kann, das war irgendwie da … (14) und schon auch so was äh eben dieses, diese, diese Frage, diese wirklich, die mich also .. nicht losgelassen hat: warum ich eigentlich auf der Welt bin?
A.L.: Mhm.
Anna P.: Und wat det eigentlich soll. … (Lacht) Und äh …() .. und wenn das eben so ein Mysterium ist und so 'ne, so, so was so 'ne große Kraft auch, der menschliche Geist, und wenn man wenn man so viel sich vorstellen kann, imaginieren kann und so weiter, *wozu das alles sein soll?* (mit erhöhter Stimme) … (12) Und dieser Punkt, also dann, hm, zu merken, das Theater ist 'ne Sackgasse …, war ein ganz wichtiger Punkt, weil sich da irgendwas in mir sehr entspannt hat plötzlich. Sag' ich jetzt im Nachhinein, das kam mir damals natürlich nicht so vor, weil ich hatte das Gefühl so irgendwie: Uff! Öh! *Ich weiß es überhaupt nicht, wie's weitergeht!“* (lachend)…“ (Z 544-571).
Anna Paul sieht noch keine neue berufliche Ausrichtung für sich. Sie weiß nur, dass sie nicht mehr als Schauspielerin weiter arbeiten will, dass sie ihr Leben so
wie bisher nicht weiter gehen wird. Sie beschreibt eine Situation, in der sie in ihrem Leben eine Zäsur erfährt. Sie beendet den Kampf, kapituliert und akzeptiert die Situation wie sie ist, nämlich dass sie das, wonach sie jahrelang in der Schauspielerei gesucht hat, dort nicht finden wird: die Möglichkeit sich zu entwickeln und Unterstützung und Begleitung für einen solchen Prozess zu finden und darüber hinaus sich mit etwas zu verbinden, was sie als Person übersteigt. Sie beschreibt gleichzeitig, sich entlastet zu fühlen mit der Entscheidung, nicht mehr als Schauspielerin zu arbeiten und vertraut ihrem Gespür, dass diese Entscheidung richtig für sie ist. Sie reflektiert dies zum Zeitpunkt des Interviews her und kann sich auch eingestehen, dass sie damals, als sie durch diesen Prozess ging, dies nicht so empfunden hat, möglicherweise, weil sie innerlich noch keine Erlaubnis dafür hatte, dass es im Leben vorkommen darf, sich beruflich umzuorientieren. Einher geht mit der Entscheidung der Beendigung der Berufslaufbahn als Schauspielerin eine tiefe Sinnkrise, ausgelöst durch die Auflösung mit der Identifikation der Berufsrolle als Schauspielerin. In diesem krisenhaften Prozess, und das hat sie erst durch das Lesen von alten Tagebüchern zeitnah zum Interviewtermin wieder erinnert, wendet sie sich einer höheren Kraft zu. Sie schreibt Gebete, in denen sie um Hilfe bittet und die ihr Trost spenden dabei, den sich vorübergehend einstellenden Zustand einer inneren Leere, eines inneren Nichtwissens auszuhalten und Hoffnung zu entwickeln, dass sich ein neuer Sinn für sie zeigen wird. Es entstehen längere Redepausen, welche die Unmittelbarkeit der biographischen Arbeit, die die Protagonistin an dieser Stelle leistet, verdeutlichen. Sie kommentiert, bestimmte Dinge erinnere sie nicht, die seien ihr entfallen. Sie forscht in sich selbst, reflektiert, dass sie sich erst vor kurzem mit dieser Phase ihres Lebens wieder beschäftigt hat, und versucht auch jetzt in der Erzählzeit, bewusst in die erzählte Zeit hinein zu spüren, um in stimmige Worte zu fassen, was sie aus heutiger Sicht in dieser krisenhaften Zuspitzung erlebt haben mag.
„…das hat mich wie vom Blitz getroffen.“ (Z 607) – der Wunsch danach, buddhistische Schülerin werden zu wollen
Eine Freundin ihrer Schwester, die kurze Zeit bei ihr wohnt, liest die Biographie von Margarete Leconte, einer Frau, die, aus dem Westen stammend, sich dem Buddhismus zugewandt hat und die, wie Anna Paul, aus dem Schauspiel kommt. Für Anna Paul, welche die Biographie ebenfalls liest, ist die Geschichte dieser Frau eine Bestätigung und eine Absicherung ihres eigenen Prozesses, ihrer eigenen Veränderung und macht ihr Mut, so wie Margarete Leconte etwas „vollkommen anderes noch ‚mal zu machen in seinem Leben“ (Z 603f) und
„Also erst ‚mal, ja, Theater und so, und man kann das *sein lassen! Das war für mich wie – das hat mich wie vom Blitz getroffen: man kann es auch sein lassen! Man kann einfach ‚was anderes finden, was einem – was einen vielleicht sogar noch tiefer interessiert* (verwundert)“ (Z 606-609).
Durch den Auftrag eines Radiosenders, den sie erhält, hat sie die Möglichkeit, Originalaufnahmen von Margarete Leconte zu hören, und ist sehr berührt von der Stimme dieser Frau und dem, was sie über sich und ihre Erfahrungen erzählt, von dem, was sie in ihrer Erzählung an buddhistischer Gedankenwelt einfließen lässt, auch wenn es gleichzeitig sehr fremd für sie ist.
Eine weitere Begegnung inspiriert Anna Paul: eine Kollegin des Rundfunksenders, für den beide Frauen tätig sind, praktiziert Zen-Meditation. Anna Paul ordnet spezielle Eigenheiten, die die Kollegin hat, wie minutenlanges Schweigen in Gesprächen, die Anna Paul einerseits irritieren und andererseits faszinieren, als Ergebnis ihrer Meditationspraxis ein. Diese Frau ist der erste Mensch, den sie persönlich kennen lernt, der meditiert. Die Begegnung mit jemandem, der diese Praxis übt, sprengt ihren bisherigen Lebenshorizont und weckt Hoffnung in ihr, im buddhistischen Kontext Antworten auf ihre drängenden Sinnfragen zu bekommen, sowie Hilfe bei der Bewältigung ihrer Angst vor dem Tod. Sie ist jedoch ambivalent, ob ihre Sehnsucht hier tatsächlich erfüllt werden kann, und zeigt durch den burschikosen Tonfall, den sie in dieser Interviewstelle einsetzt, ihre innere Distanz und Skepsis, die sie in der erzählten Zeit aus heutiger Sicht empfunden hat.
„Und dann hab' ich eh gedacht, so, jetzt möcht' ich echt mal wissen, was eigentlich Meditation ist. … Das interessiert mich jetzt doch mal. Also so eher so: Hm! … So auf der einen Seite so: *Mal schauen, was die denn wissen. Kann mir nicht vorstellen, dass die jetzt mehr wissen als ich! Ich weiß ja schon sehr viel über den menschlichen Geist.* (burschikoser Tonfall). Aber auch – ich hab' mich damals sehr auch, war für mich Tod 'n ganz wichtiges Thema und Vergänglichkeit und so, zu merken so, ja, ich bin jetzt Anfang dreißig, und verändert sich was? Und, äh – oder ich – ja. Ich weiß eigentlich immer noch nicht eben, warum ich da bin, eh und das Einzige, was sicher ist,
*ist der Tod sozusagen* (leichtes Lachen). Und dass ich irgendwie so dachte:
*Vielleicht haben die ja so irgendeinen Trick* (beschwörend, etwas leiser), die Buddhisten, wie man dem Tod *von der Schippe springen kann* (lachend)“ (Z 637-649).
Durch die Weise der Präsentation der Annäherung an die buddhistische Welt erzeugt die Biographieträgerin eine zunehmende Spannung, sie beschreibt sich selbst rückblickend wieder in der Position einer Rebellin, die Skepsis zeigt, die sich selbst als eine Person inszeniert, die schon einiges über das Leben weiß und
die sich nicht so leicht von etwas überzeugen lässt, außer es ist wirklich etwas Wertvolles, was ihr etwas bieten kann. D.h. sie positioniert sich der Zuhörerin gegenüber als eine Person mit Selbstbewusstsein, die Dinge beurteilen kann und die nicht leichtgläubig von irgendetwas zu überzeugen ist.
Anna Paul sucht dann selbst den Kontakt zu einer buddhistischen Gruppe und besucht dort ihre ersten Meditationskurse. Diese Gruppe stammt ursprünglich aus der englischen Kultur. Diese ist ihr vertraut über ihre Zeit als Austauschschülerin in England und über ihre Mutter, die eine Affinität zur englischen Kultur hat. Diese Vertrautheit hilft ihr als Brücke zu dem doch fremden Buddhismus.
Die Menschen, die sie in der buddhistischen Gruppe kennen lernt, empfindet sie im Vergleich zur Schauspielwelt als ‚verklemmt' (Z 691). Aber dafür erlebt sie die Menschen wiederum als sehr aufrichtig (Z 695), was ihr gefällt.
Anna Paul lernt erste Meditationstechniken: Atembetrachtung und die Praxis der Kultivierung von Mitgefühl. Beides sagt ihr sehr zu. Die Mitgefühlspraxis vergleicht sie mit der christlichen Ausrichtung der Nächstenliebe, mit der sie ebenfalls vertraut ist. Vertraut ist sie auch über die Arbeit mit Sinneserfahrungen darin, mit sich selbst zu arbeiten und kann diese Methode somit für die eigene Meditationspraxis für sich nutzen. Durch ihr zunehmendes spirituelles Interesse entwickelt sich Konfliktpotential in der ehelichen Beziehung, welche von Anna Paul in ihrer Fortführung in Frage gestellt wird. Das gemeinsame Leben verliert an Fundament. Anna Paul möchte z.B. nicht mehr mit ihrem Mann den Urlaub verbringen. Sie möchte stattdessen ihre freie Zeit in Retreats verbringen, was ihn wiederum nicht reizt. Doch ihre Grundlage ist stabil genug, die Ehepartner können die Veränderungen integrieren und führen die Ehe fort.
Wandlung und Integration
Die Auseinandersetzung mit der buddhistischen Lehre und die Meditationspraxis, so Anna Pauls Einschätzung in der Erzählzeit für den beschriebenen krisenhaften Prozess, helfen ihr, einen Weg aus ihrer Lebenskrise zu finden. Sie erlebt wieder Sinn, auch rückwirkend bezogen auf die schwierige Zeit, die sie durchlebt und durchlitten hat. Sie stabilisiert sich und konstituiert ein neues Identitätsempfinden.
„ja, und fand das – es machte auf einmal, machte wirklich plötzlich total Sinn. Es fingen auch an Sachen in meinem Leben Smehr Sinn zu machen, also auch eben schwierige Sachen in meinem Leben fingen an, mehr Sinn zu machen. Und … weil dieses eh buddhistische ehm Denkgebäude eben auch eine buddhistische Sicht der Welt, so wie sie anfing, sich mir zu entrollen, hab' ich irgendwann gemerkt, ja, so
macht es für mich Sinn. So macht für mich auch Leiden Sinn. So macht für mich auch schwierige Erfahrung Sinn, und so macht für mich auch Freude Sinn. Es ist genau eigentlich das, was ich immer schon irgendwie dachte oder fühlte, aber ich hatte kein Bezugsystem dafür“ (Z 720-729).
Wichtig sind ihr die Menschen, die sie kennen lernt und die sie als integer erlebt. Sie trifft zum ersten Mal Menschen, die etwas leben, was sie selbst leben möchte. Es sind Menschen, die ein ähnliches Lebenskonzept haben wie sie, so dass sie sehen kann, das gibt es, das machen andere auch und somit ist es völlig in Ordnung, dass sie es ebenfalls macht. Jedoch taucht eine alte, vertraute Frage auf:
„aber wo sind jetzt die Frauen, bitteschön, ja?“ (Z 733f). Anna Paul entdeckt sie im tantrischen Buddhismus, insbesondere in der Qualität der Tara. Sie findet zudem eine buddhistische Lehrerin, die sich intensiv mit der Tara-Figur auseinandersetzt und in ihren Kursen explizit entsprechende Praxis anbietet. Anna Paul meldet sich zu einem solchen Kurs an und wird für die kommenden Jahre Schülerin von Luise. Sie verlässt nach einer gewissen Übergangszeit ihre bisherige Meditationsgruppe, um sich ganz auf die neue buddhistische Schule einzulassen, auch wenn sie zunächst irritiert darüber ist, dass ihre neue Lehrerin keine festen Räume hat, sondern zu ihren Kursen herumreist.
Der Freiraum, das Freidenkerische, die Ausdrucksmöglichkeiten, eigenes Experimentieren, Querverbindungen zu westlichen Denkern und Denkerinnen, zur westlichen Philosophie, zum feministischen Diskurs und last but not least eine weibliche Lehrerin und damit ein weibliches Vorbild, sind Anna Paul wichtig und erfüllen das, wonach sie sucht. Ihre Lehrerin Luise bietet ihr einen Rahmen, in dem sie sich entwickeln kann und darf. Luise ermutigt sie, im Gegensatz zu ihren Eltern, frei für sich herauszufinden, was sie lernen möchte, was sie anspricht und interessiert. Anna Paul durchläuft einen regelrechten Ausbildungszyklus, etwas, das nicht beabsichtigt war, sondern sich prozesshaft entwickelt.
Wiederentdeckung des freien Selbstausdrucks
Anna Paul entdeckt die Freude an der Arbeit mit ihrer Stimme wieder. Sie kehrt also zu einer Ausdrucksform zurück, die ihr früher sehr am Herzen lag und von der sie sich dann entfernt hatte. Sie findet neben einer klassischen Gesangsausbildung eine Methode, wie sie mit Stimme wieder arbeiten kann, die ihr entspricht, einen Stimmweg, „der sehr frei ist“ (Z 840), in dem sie sich selbst auf eine umfassende Weise ausdrücken kann und mit dem sie zum Zeitpunkt des Interviews immer noch arbeitet. Er verbindet sie außerdem mit ihrem Mann, denn hier arbeiten sie gemeinsam. Einige Jahre verlaufen in dieser Weise stabil.
Anna Paul nimmt sich Zeit für ihre innere Entwicklung. Sie nennt es:
„Herzöffnung und Mitgefühl und Liebe und Liebesfähigkeit, Freundfähigkeit, sich zu beziehen auf andere, .. ehm, Wehleidigkeit loszulassen .., ja, Abwehr IAbwehr mehr abzuschleifen .. ja. So – eigentlich sich zu entspannen, so ganz tief sich entspannen zu lernen. Und – *auf der einen Seite sich entspannen zu lernen, auf der anderen Seite einen Bezugs-, Sinnbezug, Bedeutungsrahmen zu finden* (schnell) in der buddhistischen Sicht auch“ (Z 863-869).
Das biographische Handlungsschema, um das es hier erneut geht, ist die Ausrichtung nach Sinn für das eigene Leben.
Gemeinschaftsbildung
Als ein weiteres Handlungsschema präsentiert Anna Paul ihr Interesse, am Aufbau einer Gemeinschaft mitzuwirken. Anna Paul differenziert zwischen der Lehrerin-Schülerin Beziehung und den Beziehungen der Schülerinnen untereinander und benennt, dass nur, wenn sich die Schülerinnen untereinander vernetzen, sich wirklich eine Gemeinschaft entwickeln kann.
Es gibt Schülerinnen, und dazu zählt Anna Paul, die Verantwortung übernehmen, die Aufgaben übernehmen, die etwas beitragen und mitgestalten, z.B. bei einem Frauen-Buddhismus-Kongress, den Anna Paul gemeinsam mit anderen Schülerinnen von Luise mitorganisiert. So bildet sich im Laufe der Jahre ein fester Kern von Schülerinnen und Schülern, die beginnen, sich untereinander zu beziehen. So entsteht ein Netzwerk, eine Sangha. [2] Für diese Gemeinschaft ist die buddhistische Ausrichtung, so sieht es Anna Paul in der Erzählzeit, zentral in ihrem Leben. Sie sagt dazu:
„Ach, da sind Andere, die eben auch um diese Lehrerin herumkreisen, und die auch äh intensiv praktizieren und denen das 'n, vielleicht Nummer eins ist im, ehm im Leben, das Dharma [3]“ (Z 908-911).
Sie formuliert nicht explizit, dass sie sich damit auch meint. Aber da sie sich als der Sangha zugehörig erlebt, ist es sehr wahrscheinlich, dass für sie mittlerweile der Buddhismus im Mittelpunkt steht oder zumindest einen zentralen Teil ihres Lebens ausmacht und sie die Ausrichtung hin zum Dharma als neue Orientierung empfindet, der einmal für sie die „Nummer eins“ (Z909) werden könnte, wenn sie diese neue Möglichkeit für ihr Leben als realistisch integriert hat. Zum Zeitpunkt der erzählten Zeit braucht sie noch dringend die Vorbilder der anderen Sangha-Mitglieder, um sich möglicherweise die Erlaubnis zu geben, selbst in dieser Weise leben zu dürfen. Sie wirkt unsicher an der Stelle und benötigt für eine stabile Position die Rückenstärkung anderer Menschen. Dies könnte eine Stelle in ihrem Leben gewesen sein, wo sie sich von ihrer Herkunftsfamilie noch weiter entfernt hat, wo diese sie eben nicht unterstützt habe und wo diese sich wahrscheinlich nicht vorstellen konnten, in der Weise zu leben wie es nun für Anna Paul attraktiv zu werden scheint.
Identität als buddhistische Lehrerin konstituiert sich
Zunehmend wächst Anna Paul in die Rolle als Assistentin ihrer Lehrerin Luise hinein. Sie übernimmt gerne Aufgaben im Rahmen der Retreat-Gestaltung, weil sie eine tiefe Dankbarkeit empfindet für das, was sie bekommt, und entwickelt den Wunsch, etwas zurückgeben zu wollen. Luise, ihre Lehrerin, traut ihr diese Aufgaben offensichtlich zu und vertraut sie ihr an. 1999 fragt Luise offiziell, ob sie assistieren möchte, und Anna Paul entscheidet sich dafür. Als ein neues Handlungsschema wird das Hineinwachsen in die Rolle als buddhistische Lehrerin wirksam. Anna Paul möchte nicht mehr ständig um sich selbst kreisen, sondern mehr in ihrer Kompetenz gefordert sein. Gleichwohl ist die Situation im Rahmen der Assistenz ein Experiment sowohl für die Lehrerin als auch für Anna Paul. Beide Frauen probieren etwas für sie Neues aus, das erst entwickelt werden muss und wo über die Erfahrungen, die sie gemeinsam und jede für sich machen, eine Struktur für die Lehrerinnen-Assistentinnen-Beziehung und eine Definition dieser Beziehung entsteht. Zeitgleich mit Anna Paul beginnt eine weitere Schülerin zu assistieren und über den Austausch mit ihr wird der Experimentiercharakter dieses Prozesses noch deutlicher, weil sie beide sehr unterschiedliche Erfahrungen machen.
Nach einer Phase, in der sie Luise vor allem imitiert hat, und einer sich daran anschließenden Phase, in der sie sich von allem abgrenzt, was Luise einbringt und ausmacht, wächst Anna Paul zunehmend aus der Position der Assistentin in die Rolle als Lehrende mit eigenem Profil hinein. Ihre Kompetenz entwickelt sich und damit parallel ihr Selbstbewusstsein. Sie spürt, dass sie Menschen etwas anbieten kann, dass diese für ihren Entwicklungsprozess nutzen können. Parallel zu ihrem Engagement im buddhistischen Kontext bietet sie Seminare für Schauspielerinnen und Schauspieler an. Dieses Arbeitsgebiet hilft ihr, sich freier in der Gestaltung von Retreats kreativ mit neuen Elementen und eigenen Ideen einzubringen, sozusagen „Liturgie zu … zu erfinden.“ (Z 981f).
Einher geht auf persönlicher Ebene ein Prozess, in dem sie Frieden mit ihren Eltern schließen und das, was sie an Gutem von ihnen erhalten hat, würdigen und anerkennen kann. Sie markiert diese Integration, die sie erfährt und in der sich ein persönlicher Reifungsund Lernprozess widerspiegelt, sprachlich durch den zweimalig ausgesprochenen Satz „Das find' ich ganz toll“. Hier kommen die erzählte Zeit und die Erzählzeit zusammen und es wird deutlich, dass sie für sich eine hohe Übereinstimmung mit dem empfindet, wie sie ihr Leben aktuell empfindet, die Themen, die sie beschäftigen und dass sie dies als eine Art Ergebnis, das befriedet, ihres biographischen Weges bis an diese Stelle einordnet.
„Und das find' ich ganz toll, dass so also Stränge meines Lebens, ehm, was ich auch von meinen Eltern gelernt hab', was durch meine Kindheit gekommen ist, einfach so ein Know-how, was für mich leicht ist, womit ich eben spielen kann, dass das im buddhistischen Weg fruchtbar wird. Das find' ich ganz toll.“ (Z 987-991).
Da Anna Paul besonders weibliche Vorbilder am Herzen liegen, schaut sie sich im Buddhismus nach Geschichten über Frauen um. Aus ihrer nach und nach entstehenden immer umfangreicher werdenden Sammlung, die sie zunächst ausschließlich für sich selbst zusammenstellt, entsteht ein Buch, das veröffentlicht wird. Es geht ihr darum,
„diese, dieses *was die Kraft der Geschichten zu entdecken .. und auch sich, ja, zu trauen, das nutzbar zu machen .. für .. 'ne andere Form von … Geschichten erzählen über .. Frauen .. und Frauen, die ehm .. ein spirituelles Leben leben.* (zögernd)“ (Z 1000-1003).
Indem sie ein Buch schreibt, gibt sie diesen Geschichten einen Wert, aus dem auch andere Frauen für sich etwas Positives ziehen können, das sie bereichern kann, wo sie Vorbilder finden können, die sie inspirieren und an denen sie sich orientieren können. Anna Paul traut sich durch die Veröffentlichung dieses Buches solch eine Position für sich selbst zu, wird dadurch selbst zu einem Vorbild und zu einer in der Öffentlichkeit stehenden Frau, die sich zeigt mit dem, was sie zu sagen hat. Doch sprachlich drückt sie aus, dass es etwas Neues ist, dem sie sich erst zögernd und vorsichtig annähert.
Destabilisierung der Beziehung zu ihrer Lehrerin Luise versus Aufbau der Beziehung zu einer weiteren Lehrerin
2003 entschließt sich Anna Paul, als Schülerin zu einer weiteren buddhistischen Lehrerin zu gehen. Lama Chödrön bietet ihr ganz andere Qualitäten als „role model“ (Z 1010) als Luise. Sie sucht diese neue Lehrerin nicht nur als Ergänzung zu Luise auf, sondern auch, weil sie sich aus der Beziehung zu Luise lösen will. Es ist eine konfliktreiche, schmerzhafte Zeit zwischen ihr und Luise. Anna Paul erlebt Luise so, dass diese viele eigene Bedürfnisse in ihre Beziehung hineinträgt, was von deren Seite das Loslassen der ihr lieb gewordenen Schülerin nicht leicht macht. Über den Umweg, mit einer weiteren Lehrerin in Beziehung zu treten, gelingt es Anna Paul jedoch, sich von Luise zu emanzipieren, ohne dass die Beziehung zerbricht, sondern sich auf eine neue Weise konstituieren kann.
Aufbau eines heilsamen Frauennetzwerkes
Während all der Jahre, in denen Anna Paul in Kontakt ist mit ihrer Lehrerin Luise, setzt sie sich, wie weiter oben bereits benannt, für den Aufbau eines Frauennetzwerkes innerhalb der Gemeinschaft um Luise ein. Der Prozess des Aufbaus ist geprägt von massiven Schwierigkeiten und Konflikten, die zu bewältigen sind. Es geht dabei insbesondere bei ihr selbst darum, Verletzungen aus der Herkunftsfamilie, insbesondere mit ihrer Mutter, aufzuarbeiten und dies für nachfolgende jüngere Frauen vorbildhaft zu tun.
„Und das ist nämlich auch sehr heilsam für Sachen, die eben sozusagen in meiner Herkunftsfamilie nicht so toll gelaufen sind, wo ich eben, ja .. Verletzungen, die jetzt mit meiner biologischen Mutter eben gelaufen sind, von ihr zu mir und von ich zu ihr, äh ehm, wo dieses miteinander Wachsen und sich Entfalten nicht so sch-, nicht so gut gelaufen ist, äh, und Verletzungen sowohl also biographischer Art wie aber auch kultureller Art, dieses Gefühl hatte, ich konnte in dem Rahmen ganz viel .. heilen. … (3)“ (Z 1052-1059).
Es geht ihr jedoch nicht nur darum, ihre persönlichen Themen als Frau und mit Frauen zu klären, sondern auch darum, sich auf der gesellschaftlichen Ebene der Auseinandersetzung mit der Rolle als Frau zu stellen bzw. diese zu führen. Dieses Thema stellt Anna Paul außerdem in einen spirituell-religiösen Kontext.
„…wir sind ja ein, ein Frauennetzwerk, wo zwar auch Männer ‚drin vorkommen, aber die, in allen Leitungs*funktionen sind eben Frauen* (leichtes Lachen in der Stimme), und da hat man‚s natürlich auch mit ganz viel kulturellen eh Schwierigkeiten zu tun, die dann natürlich da auch auftauchen und mit dem Misstrauen gegen die Mütter und so weiter, und, ehm … Aber wir hatten zu der Zeit immer Tara noch als dritte Kraft dabei, eh wie eine eh Frau, die auch sehr wichtig ist für unser inneres Mandala, ehm, die, die Psychodramatikerin ist und die *Triangulierung* (leicht lachend) uns beigebracht hat. Also die eine Frau. Und die andere Frau in der Auseinandersetzung, aber da ist ja noch Tara! *Sozusagen als Dritte im, in dem, in dem Verbund* (leicht lachend), und sozusagen, an die man sich auch wenden kann als, als inspirierende Kraft, als schützende Kraft, für für beide Teile auch in den Auseinandersetzungen“ (Z 10321045).
Anna Paul sieht es als selbstverständlich an, dass in einem von Frauen geprägten System Konfliktfelder auftauchen, die mit der Beziehung zu Frauen im Allgemeinen und zur Rolle der Mutter im Besonderen zu tun haben. Hier spricht sie das Misstrauen an, dass gegenüber Müttern bzw. dem Mütterlichen bestehe. Ihr und ihrer Gruppe hilft in dieser Auseinandersetzung und Klärung, eine Frauenfigur oder auch –projektion als Vorbild und Orientierung hinein zu nehmen, der Qualitäten (u.a. Mitgefühl, Weisheit, Güte) zugeschrieben werden, an denen sie sich orientieren können im Sinne eines Ideals oder Wegweisers. Dieser Prozess verläuft nach Anna Pauls Einschätzung auf eine letztlich positive Weise und hilft den beteiligten Frauen, mehr persönliche Stärke zu entwickeln.
Autorität einer buddhistischen Lehrerin
Anna Paul äußert sich mit Demut über ihre Aufgabe als buddhistische Lehrerin. Sie erklärt im buddhistischen Sinne, dass sie dieses Privileg vielen anderen Menschen zu verdanken habe, die für sie diese guten Bedingungen vorbereitet haben. Sie drückt ihre Dankbarkeit und ihre Freude aus über das, was sie in den letzten Jahren im Rahmen der buddhistischen Traditionen, mit denen sie verbunden ist und insbesondere mit den beiden Lehrerinnen, denen sie begegnet ist, erfahren hat. Ebenso schaut sie selbstkritisch auf sich selbst und schätzt sich so ein, dass sie noch gar nicht so viel Erfahrung und Wissen im Buddhismus und der Meditation hat, sagt aber auch, dass es hier in Westeuropa keine besser geschulten Menschen gibt und dass es Menschen braucht, die diese Aufgaben übernehmen, wenn sie ihnen, so wie ihr, angetragen werden, weil die Nachfrage da ist. Anna Paul nimmt wahr, dass viele Menschen orientierungslos sind, wenn es um Sinnfragen geht, um den Umgang mit Gefühlen, insbesondere mit schmerzhaften Gefühlen. Ebenso sieht sie, dass gerade viele Frauen mit ihrem Leben unzufrieden sind und für sich nach einem Weg suchen, ein gutes, heilsames Leben zu führen und dabei nach Begleitung und Anleitung fragen.
„Aber wo ich immer merke, es gibt ganz viel Bedarf und gibt ganz viel Orientierungslosigkeit als wie Fragen: Wie geh' ich mit Schmerz, wie geh' ich mit negativen Gefühlen um? Was bedeutet eigentlich mein Leben? Was wie kann ich als Frau auch‚n heilsamen Weg finden? Und .. dass ich eben diese, das, ehm, Bewusstsein, das ich sozusagen ernte, was andere sozusagen äh an, an heilsamen Taten gemacht haben, dass es für mich 'ne Verantwortung ist, genauso auch äh in, in meinem Leben jetzt äh, zu versuchen, das nicht wegzuwerfen und das nicht sozusagen gering zu achten und das nicht, ehm, alles wieder zu verspielen.
A.L.: Mhm.
Anna P.: Aber noch anzunehmen, dass dass ich eben, ja, auch für andere da bin. .. Und eben sozusagen da hingestellt bin jetzt eben an die Position, und ich mach's jetzt halt, weil's grad keine besseren gibt.“ (Z 1081-1094).
Anna Paul sieht sich in einer Verantwortung, die entstanden ist durch eine Einbettung in ein soziales Umfeld, von dessen positiven Auswirkungen sie profitiert. Verantwortung zu übernehmen heißt hier für sie, das Potential, das sie erhalten hat, für andere Menschen zu nutzen und im Sinne einer Generativität an andere Menschen weiter zu geben, in ihrem Fall als buddhistische Lehrende. Sie positioniert sich in der Rolle als Lehrende, als Autorität mit Erfahrung, als die sie sich in der Erzählzeit empfindet.
Umgang mit Macht in der Rolle der buddhistischen Lehrerin
Zentral ist für Anna Paul in der Auseinandersetzung mit Machtthemen die Beziehung zu ihrer Lehrerin Luise. Mit ihr hat sie viele Machtkämpfe durchgefochten und erlebt in ihr eine Frau, die Mühe hat, Andere neben sich als ebenbürtig zuzulassen und anzuerkennen. Sie nennt Luises Netzwerk ein „Königinnenreich“ (Z 1432), in dem Luise im Zentrum steht und sämtliche Macht auf sich selbst ziehen will. Insgesamt geht es nach Anna Pauls Ansicht in der Gemeinschaft der nachwachsenden Lehrerinnen, zu denen Anna Paul ja auch zählt, um Themen im Kontext von Macht, die sie als frauenspezifisch tituliert, wie Eifersucht, Neid, Minderwertigkeitsgefühle und Selbstüberschätzung (vgl. Z 1445ff). Christian Scharfetter beschreibt die Anforderungen an Menschen, die als MeditationslehrerInnen tätig sind geschlechtsunabhängig wie folgt:
„Meditationsleiter haben besonders hohen ethischen und moralischen Anforderungen an ihre Integrität, bescheidene Selbstreflexion, reife Überwindung von Anhaftungen, Wünschen, Trieben, Echtheit ihres gütig-toleranten Sich-zur-Verfügung-Stellens zu entsprechen. Solch hohem Anspruch sind manche nicht gewachsen. Sie erliegen der Verführung von Selbstpräsentation als Guru, von Verehrung, Macht, Geld, Luxus, Sexualität, Alkohol und anderen Suchtmitteln“ (Scharfetter, 2004, S. 71ff)
Bezüglich ihrer eigenen Macht zeigt sie sich unsicher. Sie empfindet, dass ihr zu viel Bedeutung gegeben wird von den SchülerInnen. Die große Aufmerksamkeit und Bewunderung, sie nennt es „anhimmeln“ (Z 1467), scheinen ihr einerseits unangenehm zu sein, andererseits scheint sie anfällig zu sein für die Identifizierung durch die positiven Projektionen und spürt, dass daran etwas nicht gut ist, was ihr aber noch nicht bewusst ist. Über eine Entwicklung mit Zeit, und damit meint Anna Paul sich sicher auch selbst, entstehe Selbstvertrauen darin, die Rolle als Lehrende einnehmen zu dürfen. Seitens der Schülerinnen und auch von männlichen Schülern erhält Anna Paul positives Feedback dazu, dass es auch weibliche Lehrende gibt.
Persönliche Auszeit und Regeneration
Anna Paul äußert zum Zeitpunkt des Interviews für sich persönlich den Wunsch nach einem Jahr im Retreat, d.h. den Wunsch Zeit für sich, Zeit für ihre Praxis und Entwicklung zu haben. Obwohl es viel zu tun gibt, sie gebraucht würde, um Seminare zu leiten, die nachgefragt werden – auch ein Ensemble-Projekt aus der Stimmarbeit, das sie mit ihrem Mann leitet, wird noch zur Premiere kommen in diesem Jahr – kann sie ihr eigenes Bedürfnis nach Rückzug spüren, um sich zu regenerieren. Sie äußert „*ich muss erst ‚mal sozusagen wieder mal in' n Leerlauf* (leiser)“ (Z 1111f). D.h. im Gegensatz zu ihrer kritischen Phase, in der sie Leere als bedrohlich, negativ und eher im Sinn einer Endstation erlebt hat, kann sie jetzt das Bedürfnis nach Leere positiv bewerten mit dem Ziel, sich selbst wieder klarer zu spüren und ausrichten zu können.
- [1] Das sogenannte „autobiographische Selbst“, mit dem Menschen, hier Kinder, fähig werden, „multiple Repräsentationen zueinander in Beziehung zu setzen“, entwickelt sich erst ab einem Alter von ca. 4-5 Jahren. (Fonagy / Gergely / Jurist / Target (2011): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. S. 252ff)
- [2] Hier ist damit ein Netzwerk von Schülerinnen und Schülern gemeint, die sich zum einen auf dieselbe Lehrerin beziehen und sich zum anderen untereinander unterstützen in ihren intrapsychischen Prozessen und auf ihrem jeweiligen Lebensweg. Dieser Qualität einer Gemeinschaft wird im buddhistischen Kontext ein hoher Wert zugeschrieben
- [3] Dharma ist die buddhistische Lehre