Wie viele Täter gab es?
Will man die Frage nach der ungefähren Zahl der Täter beantworten, steht man zunächst vor der Schwierigkeit, festlegen zu müssen, wer überhaupt als Täter gilt und wer nicht. Inzwischen gibt es mit der sogenannten Täterforschung einen Spezialzweig, der sich seit den neunziger Jahren intensiver den verschiedenen Tätergruppen zuwendet, nachdem die Geschichtswissenschaft diese zu ihren Lebzeiten weitgehend ignoriert bzw. sich auf wenige Haupt- und Exzesstäter kapriziert hatte, die sie überdies häufig dämonisierte und pathologisierte.
Heute sind Täter und Tatbeteiligte vieler Ebenen und Institutionen im Fokus der Forschung. Insgesamt geht man von 200 000 bis 250 000 deutschen bzw. österreichischen Tätern aus. Hierunter fallen die SS-Leute, die in den Lagern mordeten, ebenso wie SS-Männer und Polizisten der Einsatzgruppen und Polizeibataillone, die hunderttausende Juden in zahllosen Massakern erschossen. Hieran beteiligt waren Soldaten und andere Angehörige der Wehrmacht, die mitunter auch selbstständig töteten. In zahlreichen weiteren Einheiten und Institutionen wie der Verwaltung, der Hitler-Jugend, dem Bahnschutz und vielen mehr wurden Menschen zu Tätern des Holocaust. All diese weit überwiegend männlichen Täter bezeichnet man wegen ihrer direkten Konfrontation mit ihren Opfern und dem Morden auch als Direkttäter. Hinzu kommt die Gruppe der sogenannten Schreibtischtäter, jene wiederum überwiegend männlichen Beteiligten, die aus ihren Büros heraus den Massenmord koordinierten und vorantrieben, die entsprechende Verordnungen auf den Weg brachten und anderes mehr. Exemplarisch für diese Männer steht Adolf Eichmann, der im Reichssicherheitshauptamt eine Schlüsselfigur der europaweiten Koordination des Völkermords war. Die Übergänge zwischen diesen Kategorien sind fließend. Gerade in Reinhard Heydrichs Reichssicherheitshauptamt verfolgte man bewusst die Linie, dass sich viele erst «im Felde» bewähren sollten, bevor sie Führungsaufgaben in der Zentrale des Terrors überantwortet bekamen. Die führenden Männer des Amtes waren daher nicht selten zuvor in den Einsatzgruppen im besetzten Polen oder den eroberten sowjetischen Gebieten am Massenmord beteiligt gewesen.
Der Kreis der Täter reicht über Uniformträger und Funktionäre der Besatzungs- und Verwaltungsapparate hinaus. In den besetzten Ländern, hier vor allem im besetzten Ostmitteleuropa, dem Epizentrum des Holocaust, aber auch im Deutschen Reich waren Männer und Frauen aus der Gesellschaft, die keine Funktionen in Parteigliederungen oder Verwaltungen innehatten, Tatbeteiligte. Privatpersonen beteiligten sich am Morden, hetzten oder prügelten Juden während der Novemberpogrome zu Tode, machten in der Kriegsendphasejagd auf geflohene Häftlinge aus den Todesmärschen und vieles mehr.
Der Holocaust war zwar deutschen Ursprungs, er wurde in NS-Deutschland erdacht, geleitet und maßgeblich von deutschen Täterinnen und Tätern in allen unterjochten Ländern betrieben. Gleichwohl entwickelte er sich in gewisser Weise zu einem europäischen Projekt, an dem auch viele nichtdeutsche Täter, freilich nicht immer freiwillig, teilhatten. Im besetzten West- und Nordeuropa spürten vielfach einheimische Polizeikräfte, auch mit Hilfe von Teilen der örtlichen nichtjüdischen Bevölkerung, Juden auf, verhafteten sie und führten sie den Deportationszügen zu, die wiederum von einheimischen Bahnmitarbeitern gefahren und organisiert wurden. Zudem kam es mancherorts zu pogromartigen gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden, etwa in Paris, Amsterdam und Antwerpen. Im besetzten Mittel- und Osteuropa gab es, da dort auch die Ermordung der Juden im Wesentlichen stattfand, zudem Direkttäter, die als Polizisten an der Erschießung von Juden oder die als teilweise zwangsrekrutierte
Hilfskräfte der SS an den mörderischen Räumungen der Ghettos sowie am Mordbetrieb in den Vernichtungslagern beteiligt waren. Die Gesamtzahl dieser nichtdeutschen Tätergruppen ist nicht annähernd zu beziffern, da es nach wie vor an Forschungsarbeiten hierzu mangelt. Wie hoch ihre Zahl auch ausfallen mag, sie ändert nichts daran, dass die deutsche Besatzungs- und Mordpolitik den Rahmen setzte, das Verbrechen plante und initiierte und so die Voraussetzungen für das Morden überhaupt erst schuf.