Was war das Ringelblum-Archiv?

Angesichts des Willens der Nationalsozialisten zur totalen Auslöschung jüdischen Lebens und der Erinnerung daran kann man die Dokumentation des Alltags und des Sterbens der Juden unter deutscher Herrschaft durchaus als einen Akt des Widerstands begreifen. Eine solche Initiative bildete sich 1940 um den jüdischen Historiker Emanuel Ringelblum in Warschau. Unmittelbar nach der Abriegelung des Ghettos trafen sich Gleichgesinnte am 22. November in Ringelblums Wohnung und besprachen die Grundzüge des geheimen Archivs, das auch vor den jüdischen Institutionen verborgen bleiben sollte. Die Gruppe, die sich Oneg Shabbat, Freude am Sabbat, nannte, knüpfte unter schwierigsten Bedingungen an innovative Methoden und Themen der jüdischen Forschung der Zwischenkriegszeit an: Im Fokus stand eine Alltagsgeschichte der Juden, in der die Rolle von Frauen, das besondere Los von Kindern und das Leben all derer in den Blick genommen werden sollten, die selbst keine Zeugnisse hinterlassen. Um ein möglichst breites Bild einzufangen, sammelten sie neben Tagebüchern, Erinnerungsskizzen, Plakaten und Zeitungen auch Material, das sie selbst erstellten oder initiierten. Hierzu gehörte eine Sammlung von kursierenden Witzen und Anekdoten oder ghettosprachlichen Ausdrücken. Sie starteten Aufsatzwettbewerbe unter Kindern, die ihre Erfahrungen während der Besatzung schildern sollten. Interviews wurden durchgeführt, um auch die Stimmen derjenigen einzufangen, die nicht schrieben. Sie gaben Reportagen über Alltagsphänomene des Ghettos wie das Straßenleben, Bettler, die Suppenküchen und anderes mehr in Auftrag. Das Material, das nicht nur über die Situation in Warschau, sondern im gesamten deutsch besetzten Polen gesammelt wurde, sollte Grundlage für eine großangelegte Kollektivmonographie über jüdisches Leben unter deutscher Herrschaft werden, die konzipiert und begonnen, aber wegen der Deportationen im Sommer 1942 nie abgeschlossen wurde. So vielfältig wie die Themen und Materialien waren, so vielseitig waren auch die beteiligten Personen: Szymon Huberband, ein Rabbiner, erstellte Beiträge über das religiöse Leben im Ghetto, Lehrer wie Abraham Lewin oder Bluma Wasser gehörten dazu sowie die Journalistin und Schriftstellerin Rachel Auerbach, die im Ghetto eine Suppenküche leitete und darüber schrieb.

Die Gruppe besaß vielfältige Kontakte, auch zu Gruppen des jüdischen Widerstands, deren Untergrundzeitungen man ebenfalls sammelte. Einen der größten Erfolge erzielte Ringelblum im Oktober 1942, als es gelungen war, einen zusammenfassenden Bericht über die Lage der Juden im besetzten Polen aus dem Ghetto und außer Landes zu schmuggeln und bis nach Großbritannien zu übermitteln. Die BBC stützte sich bei einer Ausstrahlung im Herbst 1942 hierauf, als sie ihre Hörerschaft über die deutschen Verbrechen informierte.

Dieser Erfolg änderte aber nichts am Lauf der Dinge. Als im Juli 1942 in Warschau die Deportationen in das Vernichtungslager Treblinka begannen, traf es auch Leute aus dem Kreis von Oneg Shabbat. Aus Sorge um die Überlieferung ihrer Sammlung beschlossen die Chronisten, Anfang August 1942 einen Teil des Materials in zehn Metallkästen in einem Keller zu verstecken. Im Februar 1943 verbargen sie, in Milchkannen gestopft und vergraben, einen zweiten Teil der Unterlagen. 1946 konnte dies mit Hilfe zweier Überlebender aus dem Kreis, Rachel Auerbach und Hersz Wasser, aus den Trümmern des zerstörten ehemaligen Ghettos geborgen werden. Heute zählt dieses unschätzbar wertvolle Material zum UNESCO-Weltkultur-erbe und wird im Archiv des Jüdischen Historischen Instituts aufbewahrt. Die meisten Menschen, die halfen, die Zeugnisse zusammenzutragen bzw. zu erstellen, wurden ermordet. Emanuel Ringelblum, der gemeinsam mit seiner Frau Yehudis und seinem kleinen Sohn Uri im März 1943 aus dem Ghetto geflohen war, lebte gut ein Jahr in einem Versteck, wo er weiter an Aufzeichnungen arbeitete. Im März 1944 wurde der Unterschlupf verraten und alle Menschen, die sich dorthin gerettet hatten, ermordet.

 
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