Katharina Wolf: Die Auseinandersetzung mit dem Tod als Segen
Katharina Wolf wächst in einem eher wenig religiös ausgerichteten Umfeld auf. In ihrer Familie beschäftigt man sich eher mit esoterischen Disziplinen. Ihr Urgroßvater habe sich sehr gut mit Astrologie ausgekannt. In ihrer Erzählung tauchen gelegentlich Anmerkungen auf, die deutlich machen, dass es in ihrer Herkunftsfamilie selbstverständlich war, im astrologischen Sinn zu deuten (z.B. „wo denn immer gesagt wurde, wir wären pflegeleichte Kinder, wir sind eh .. Waage, Sternzeichen, also recht anpassungsfähig als Kinder immer gewesen“ [Katharina Wolf, Z 93ff] „die war sehr kritisch meine Mutter, die hat [] Skorpionfrau, sehr intuitiv, und entweder die mochte jemanden oder die mochte jemanden nicht“ [ebd., Z 176ff]). Ab dem 17. Lebensjahr Katharina Wolfs nehmen über einen Zeitraum von ca. 4 Jahren spirituelle Praktiken einen zentralen Platz in ihrem Leben ein. Ausgelöst wird dies durch die lebensbedrohende Krebserkrankung ihrer Mutter, an deren Folgen sie letztendlich stirbt. Katharina Wolf erinnert diese Zeit als „das kritischste Lebensereignis aus der damaligen Sicht überhaupt“ (Z 215f). Ihre Mutter sucht neben herkömmlichen Wegen zur Behandlung von Krebserkrankungen alternative Heilweisen, wozu auch esoterisch-spirituellen Praktiken gehören, in denen sie sich teils selbst schulen lässt.
„Und das andere war eine Frau, die dann auch die beste Freundin von meiner Mutter geworden ist, die ehm .. sssich damals schon mit Reiki [1] sehr intensiv beschäftigt hat und auch, hmm ... hmm .. wie soll man das sagen? So ‚was wie ChanChanneling [2], aber damals hatte ich das Wort Channeling noch nicht gehört, aber sie hat immer gesagt, Du musst mit Deiner eigenen Führung, Deiner inneren Führung in Kontakt kommen, und die hat mit meiner Mutter ..ein, ich würde ‚mal sagen, 2 bis 3jähriges Training gemacht, also die sind sich, also ich glaub', 2 bis 3mal in der Woche haben die sich getroffen, und haben .. innere Prozesse durchleuchtet“ (Katharina W., Z 305-313).
Zusätzlich erlebt Katharina Wolf ihren damaligen Partner ebenfalls als einen sehr spirituellen Menschen, und so übernimmt die gesamte Kernfamilie spezielle Praktiken und übt diese zum Teil gemeinsam aus. Katharina Wolf erinnert dies sowohl als sehr unterstützend für diese schwere Zeit, um den Tod der Mutter verarbeiten und integrieren zu können, als auch als Nähe entstehen lassend und ein Empfinden von Halt und Verbundenheit. Katharina Wolf fasst diese Zeit für sich wie folgt zusammen:
„Also, ich kann bis heute die Zeit, die damals gewesen ist, also, ( ) wenn ich das in mein gesamtes spirituellLeben, spirituelles Leben so einen Platz geben soll, würde ich (sagen), na ja, das ist eh sowieso ‚n Segen gewesen, dass ich das erleben durfte mit meiner Mutter, also so tief in das Existenzielle ‚reingeschoss-, reingeschoben zu werden, also so, sich mit dem Tod auseinander zu setzen“ (ebd., Z 425-430).
Auch in der Erzählzeit wird die Nähe und die Bedeutung zu der damaligen Lebensphase durch die sprachliche Darstellung, die Katharina Wolf wählt, deutlich. Sie beschreibt in einer längeren Passage in einer dialogischen Formulierung eines Gesprächs zwischen ihrer Mutter und ihr die Anweisung einer der Übungen, die ihre Mutter vollzogen hat und die sie, aber auch ihr Freund, dann später übernommen haben und die sie wohl nachhaltig berührt und beeindruckt hat.
„also ich hab' gesagt, was machst du denn da? Da hat sie gesagt, ich .. hab' jetzt für diese Woche die Übung bekommen mit meinem inneren, mit meiner inneren Führung in Kontakt zu treten. Da habe ich gesagt und wie machst Du das? Und tja, Antje hat mir gesagt, am Besten Du schreibst das auf. .. Du stellst ‚ne Frage, setzt Dich hin eh .. gehst in eine Gedankenleere und dann ehm guckst du, was an Impulsen oder an Worten oder was auch immer kommt. Und das schreibst Du auf, also direkt, ohne ‚drüber nachzudenken ... Und meine Mutter hat sich dann hingesetzt ,dann hat sie gesagt,
*mein Gott, das funktioniert nicht* (etwas genervt klingender Tonfall) und blöd und ehh, da kommen immer so viele Gedanken in ‚n Kopf und ich kann mich gar nicht konzentrieren, und dann hab' ich gesagt, ist doch ganz einfach, warum machst' de nicht , dann sagt sie, dann mach' Du doch. Dann * hab' ich mich hingesetzt* (lachend) (lachen), also da war ich, da war ich noch 17, das weiß ich genau, da hab' ich mich hingesetzt, ... und habe das .. so wie das meine Mutter gesagt wurde, hab' ich das gemacht und dann hat sich tatsächlich ‚ne Stimme gemeldet (Lachen). Ich hab' Fragen gestellt, die Antworten sawaren gekommen und ich hab' das dann aufgeschrieben und erst nachdem ich es aufgeschrieben hab', habe ich es mir angeguckt und hab‚ gesagt *was ist das denn?* (überrascht, neugierig). Das ist ja interessant“ (ebd., Z 362381).
Sie berichtet weiter, dass ihr Freund ebenfalls diese Übung macht und seine Texte in einer fremden Sprache schreibt, die er selbst nicht beherrschte. Ihr Vater habe dann herausgefunden, um welche Sprache es sich überhaupt handelte und habe die Texte übersetzen lassen. Diese Erfahrung scheint die ganze Familie überzeugt zu haben bzw. noch mehr überzeugt zu haben, dass die Praktiken wirken, und scheint über die gemeinsamen Aktivitäten eine Nähe in der Familie bewirkt zu haben und ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. Katharina Wolf beschreibt weitere konkrete esoterische Handlungen, die die Familie gemeinsam ausgeübt hat, in denen sie sogar Erfahrungen erinnert, dass der bereits verstorbene Urgroßvater sich auf gewisse Weise ‚bemerkbar' macht, was sicher wiederum das tröstliche Gefühl erzeugt, nach dem möglichen Tod der Mutter weiter mit ihr verbunden zu bleiben und Kompetenzen zu haben, mit ihr direkt in Kontakt treten zu können.
„wir haben uns dann bis zum Tod meiner Mutter mindestens dreimal in der Woche abends zusammen gesetzt, .. gebetet ... das hatte ... das hatte die innere Führung meiner Mutter ihr auch gesagt, dass wir beten sollten, und in der Zwischenzeit ist unser Urgroßvater gestorben, ehm, der ja da auch lebte, .. und eh ... *der, also der* (etwas prustend) hat sich dann irgendwann in diesen gemeinsamen, also es ist wirklich ein gemeinsames Zusammensein gewesen, was wir abends hatten. ( ) Gebetskreis sagen würde, aber nur innerhalb der Familie, es war also aund mein Freund Sascha und Antje war .. ein paar Mal dabei und der Heilpraktiker und ansonsten ist das ... (3) hat das 3 Jahre lang nur in dem Kreis statt gefunden und wir haben so etwas wie ‚ne .. innere Schulung ... bekommen. Hauptsächlich durch den Kanal, kann man sagen, von meinem damaligen Freund. ... (3) Sehr spannend“ (ebd., Z 414-425).
Das gemeinsame Gebet und die Kontaktaufnahme mit der ‚inneren Führung' als eine Art Autorität, die jedoch nicht im Sinne einer göttlichen Instanz verstanden wird, die außerhalb der Menschen eingeordnet wird, sondern eine den Menschen innewohnende Autorität, verschaffen ein Empfinden von Kontrolle. Die Qualität des Gebets in Verbindung mit der beschriebenen Praxis der ‚inneren Schulung' wird als ein „Collaborative style“ als religiöse Copingstrategie deutlich, d.h. Katharina Wolf (und ihre Familie) sucht (suchen) Hilfe und Beistand bei einer Instanz, der zugetraut wird, entsprechende Kompetenzen zu haben, jedoch immer in Kooperation mit den Kompetenzen, die der eigenen Person ebenfalls zugesprochen werden (vgl. Grom, 2007, S. 83). Ebenso mag die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod und dem Erleben, wie ihre eigene Mutter diesen Prozess vollzogen hat, eine stabilisierende und reifende Wirkung auf Katharina Wolf gehabt haben. Sie erklärt, dass sie erst ca. zwei Jahre nach dem Tod der Mutter, deren Sterben sie als friedvoll erinnert, im „Tibetanischen Totenbuch“ die Phasen des Sterbeprozesses aus tibetisch-buddhistischer Sicht nachgelesen hat und diese Beschreibung in vollständiger Übereinstimmung mit dem Sterbeprozess ihrer Mutter empfunden habe. Diese Lebensphase ist für Katharina Wolf sozusagen die Initialzündung, sich in ihrem Leben intensiv einer spirituellen Geistesschulung zuzuwenden, die sie bis zum Interviewzeitpunkt fortsetzt und die sich sogar bis in ihr berufliches Leben ausgeweitet hat.
In der mehr als 20 Jahre später durchlebten Trennungsphase von ihrem Ehemann, die „bisher der größte Schmerz in meinem Leben gewesen, also das ... einerseits das schönste Glück, das ich jemals erlebt habe, aber auch der größte Schmerz während der Beziehung schon, aber dann auch, als es auseinander gegangen ist“ (Katharina W., Z 1317-1320), greift sie wieder auf entsprechende Übungen zurück. Auch dieses Mal sucht sie sich Unterstützung im Sinne des „Collaborative style“ bei einer Autoritäts-Instanz, doch dieses Mal ist es ein realer Mensch, ein langjähriger buddhistischer Lehrer, mit dem sie eng verbunden ist. Er begleitet sie durch den schmerzhaften Trennungsprozess, ohne ihr die Eigenverantwortung für diesen Prozess abzunehmen. Möglicherweise hat die Erfahrung in der Krankheitsphase ihrer Mutter Katharina Wolfs Empfinden gestärkt, Krisen bewältigen zu können, durch eigene Übungen dazu beitragen zu können, gleichzeitig jedoch auch Hilfe anfragen und diese annehmen zu können.
Geistig-religiöse Lernprozesse durch krisenhafte bzw. existenzielle Themen berührende Lebenssituationen
Im Vergleich der drei Stegreiferzählungen wird insgesamt deutlich, dass für alle Protagonistinnen die geistig-religiöse Ebene zentral und tragend war in der Auseinandersetzung mit existenziellen Themen, ausgelöst durch den Tod naher Menschen. Es wurde nachgewiesen, dass „religiöse Überzeugungen und Aktivitäten die Bewältigung des Verlusts einer geliebten Person im Trauerprozess günstig beeinflussen können, sofern es sich um intrinsische Religiosität handelt“ (Grom, 2007, S. 100). Durch die Analyse der Verlusterfahrungen und ihrer Bewältigung durch die Biographieträgerinnen konnte extrapoliert werden, dass die geistig-religiöse Ausrichtung ihnen explizit bei der Durcharbeitung dieser schwierigen Lebenserfahrung geholfen hat und einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung und psychischen Stabilisierung beigetragen hat. Bei einer der Protagonistinnen, Anna Paul, führte die Lebenskrise durch einen Wandlungsprozess sogar bis hin zu einer Konversion.
Alle drei Frauen haben außerdem aktiv die geistig-religiöse Ausrichtung gesucht, d.h. sie haben antizipiert, dass dieser Zugang ihnen helfen kann ohne dies im Vorhinein genau zu wissen. Die Vorannahme hat sich jedoch für sie bestätigt und ihre geistig-religiöse Ausrichtung gefestigt und vertieft. Zudem hat sie als persönlichkeitsstabilisierender Faktor zur Bewältigung für weitere schwierige Prozesse gewirkt.
- [1] Reiki kommt aus dem Japanischen, bedeutet übersetzt soviel wie universale Lebensenergie, und wird über Handauflegen sowie über spezielle Symbole und Visualisierung übertragen und soll heilende Wirkung haben
- [2] Channeling bedeutet in diesem Kontext soviel wie das Empfangen von Informationen von übernatürlichen Wesen