Verwandte Konstrukte
Auch wenn der Begriff der kognitiven Aktivierung noch relativ jung ist, ist der Grundgedanke, dass Unterricht verstehensorientiert und kognitiv anspruchsvoll sein sollte, nicht neu und wurde bereits mit verschiedenen Begrifflichkeiten belegt, von denen einige im folgendem Abschnitt knapp erläutert werden.
In der englischsprachigen Literatur findet sich beispielsweise der Begriff des teaching thinking in einer Vielzahl von Publikationen (z. B. Beyer, 2001; Costa, 2001; Davidson & Worsham, 1992). Hierbei wird betont, dass Schülerinnen und Schüler neben den fachlichen Inhalten auch das Denken selbst lernen sollten (Lawson, 1993), um den Anforderungen des lebenslangen Lernens besser gerecht werden zu können (z. B. Beyer, 2001). Sternberg (1987) listet folgende Merkmale guter Denker auf, die im Unterricht gefördert werden sollten: Strategien, mentale Repräsentationen, eine solide Wissensbasis und die Bereitschaft, die eigene Denkfähigkeit zu nutzen. Fielding (2001) integriert in einer Checkliste für die Unterrichtsbeobachtung zum teaching thinking einerseits affektive Indikatoren wie ein offenes lernförderliches Klima, die Anregung zur Kooperation und eine akzeptierende Grundhaltung der Lehrperson. Andererseits nimmt er auch folgende kognitive Indikatoren auf: die Lernenden Informationen sammeln und organisieren lassen, sie ermutigen, ihre Ideen zu begründen und andere Meinungen und Positionen zu sondieren, offene Fragen stellen und die Schülerinnen und Schüler dazu bringen selbst Fragen stellen, die Strategienutzung anregen und modellieren sowie die Lernenden zum Verbalisieren und Überprüfen ihrer Gedanken bringen und genügend Zeit für Reflexionen einzuräumen. Damit geht eine Verschiebung der Rolle der Lehrperson vom Informationsvermittler zum Lernerleichterer und Unterstützer des Lernprozesses einher (Davidson & Worsham, 1992).
Ebenfalls mit dem Unterrichtsqualitätsmerkmal kognitive Aktivierung in Verbindung gebracht werden kann die Forderung nach dem sogenannten higher order thinking, also dem Anregen höherwertiger Denkprozesse (z. B. Lewis & Smith, 1993; Underbakke, Borg & Peterson, Summer, 1993). Newmann (1988) charakterisiert higher order thinking als herausfordernde und erweiterte Nutzung des Verstandes als Folge von neuartigen Problemlösesituationen, die das Interpretieren, Analysieren oder Manipulieren von Informationen erfordern und grenzt es damit von einer routinierten, mechanischen Anwendung des Geistes ab, die er als lower order thinking bezeichnet. Ob eine Aufgabe aber neuartige Problemlösungen verlangt, hängt von den jeweiligen Vorkenntnissen der Person ab, was eine Fremdeinschätzung erschwert (Newmann, 1988). Dies bedeutet auch, dass bereits im Anfangsunterricht der Grundschule die Anregung anspruchsvoller Denkprozesse möglich ist, wenn man den Begriff relational definiert.
Eine weitere Begrifflichkeit aus dem englischsprachigen Raum ist das critical thinking (z. B. Dick, 1991; Ennis, 2001; Henderson, 1972; McPeck, 1990), wozu Ennis (1987, 1993) unter anderem folgende Komponenten zählt: die Glaubwürdigkeit von Quellen oder Argumenten beurteilen, Schlussfolgerungen ziehen, Gründe und Vermutungen identifizieren, eine eigene Position entwickeln und verteidigen oder angemessene Fragen stellen. Von Schafersman (2008) wird critical thinking definiert als „reasonable, reflective, responsible, and skillful thinking that is focused on deciding what to believe or do” (S. 3).
Ein übergeordneter Begriff, der verschiedene bisher genannte Forderungen vereint, ist die authentic instruction, die sich nach Newmann und Wehlage (1993) durch fünf Aspekte oder Standards charakterisieren lässt: das bereits im vorangegangenen Abschnitt beschriebene higher order thinking, eine gewisse Tiefe des Wissens oder des Verständnisses, einen Bezug zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler, ein substanzielles Unterrichtsgespräch und soziale Unterstützung, was hohe Leistungserwartungen bei gleichzeitig gegenseitigem Respekt einschließt.
Oftmals wird auch von verstehensorientiertem, verständnisförderndem Unterricht (Baumert & Köller, 2000; Beck, 1995; Drollinger-Vetter, 2011; Ewerhardy, 2010; Gais & Möller, 2006) oder teaching for understanding (z. B. Carpenter & Lehrer, 1999; Hiebert & Grouws, 2007) gesprochen. Reusser (1989) bezeichnet das Lehren des Verstehens als die „kategoriale pädagogisch-didaktische Tätigkeit des Lehrers“ (S. 131). Hiebert und Carpenter (2004) beschreiben den Verstehensprozess als das Herstellen von Verknüpfungen und Zusammenhängen. Da der Lerner den Informationen selbst eine Bedeutung gibt, wird Verstehen als subjektive Konstruktionsleistung aufgefasst (Drollinger-Vetter, 2011). Diese Konstruktionsprozesse bauen kumulativ aufeinander auf, da immer wieder neue Informationen in die bereits vorhandenen Wissensstrukturen eingeordnet werden. Damit ist Verstehen mehr als Wissen, da es das Wissen ordnet und strukturiert (Gais & Möller, 2006). Baumert und Köller (2000) grenzen die „basalen Qualitätsmerkmale“ (S. 273), die soziale Prozesse und das Unterrichtsmanagement umfassen, von „didaktisch konzipierten Qualitätsmerkmale(n)“ (S. 273) ab, die das verständnisvolle Lernen betreffen. Drollinger-Vetter (2011) ordnet einem verstehensorientierten (Mathematik-)Unterricht wiederum mehrere Qualitätsmerkmale zu – die Aufgabenqualität, die kognitive Aktivierung sowie Klarheit und Strukturiertheit. „Unterricht ist dann verstehensorientiert, wenn er für möglichst viele Lernende fachlich adäquaten Sinnfluss ermöglicht“ (S. 75). Ähnlich wie bei der kognitiven Aktivierung wird auch hier davon ausgegangen, dass dies nicht direkt anhand der Oberflächenstruktur des Unterrichts erkennbar wird (Drollinger-Vetter, 2011). Das Unterrichtsangebot bildet vielmehr eine „Gelegenheitsstruktur für verständnisvolles Lernen“ (Baumert & Köller, 2000, S. 272).
Einsiedler und Hardy (2010) verwenden zusätzlich zum Begriff der kognitiven Aktivierung den der kognitiven Strukturierung (vgl. auch Hardy & Koerber, 2010), wobei sie dabei kognitive Strukturierung als das umfassende Konstrukt konzeptualisieren und kognitive Aktivierung als eine Teilmenge davon. Sie definieren kognitive Strukturiertheit als „eine prozessorientierte Unterstützung individueller Wissenskonstruktionen […], die – unter der Prämisse der Förderung möglichst selbstständigen Denkens – auf spezifische kognitive Operationen und auf konzeptuelles Verständnis der Schüler im Sinne einer Integration von Lernvoraussetzungstheorien und Inhaltstheorien zielt“ (S. 201). Dadurch soll zum einen Komplexität reduziert werden, andererseits sollen die Schülerinnen und Schüler aber auch kognitiv herausgefordert werden, um zu neuem Wissen und zu neuen Fähigkeiten zu gelangen (Einsiedler & Hardy, 2010). Während die kognitive Strukturierung neben der Lehrer-Schüler-Interaktion auch die inhaltliche Gliederung des Unterrichts umfasst, wird kognitive Aktivierung eher über die jeweiligen Fachziele bestimmt, wobei beide Aspekte auch Überschneidungen aufweisen (Einsiedler & Hardy, 2010).
Auch das Konzept der (prozessorientierten) Lernbegleitung weist Überschneidungen zum Konstrukt der kognitiven Aktivierung auf. Kobarg und Seidel (2007) verstehen unter prozessorientierter Lernbegleitung in Anlehnung an Bolhuis (2003), Bolhuis und Voeten (2001), Vermunt (1994) und Volet (1995) „einen Überbegriff, der alle unterrichtlichen Handlungen beinhaltet, die darauf abzielen, das verständnisorientierte und elaborierende Lernen der Schülerinnen und Schüler anzuregen und zu unterstützen und den Schülerinnen und Schülern zu helfen, ihre individuellen Lernprozesse weiterzuentwickeln“ (S. 149/150), was dem Konstrukt der kognitiven Aktivierung sehr nahe kommt. Folgende Angebote von Seiten der Lehrperson zählen für Kobarg und Seidel (2007) zur prozessorientierten Lernbegleitung: eine aktive Beteiligung der Lernenden beispielsweise durch das Stellen eigener Fragen oder das Erklären bestimmter Sachverhalte, Rückmeldungen, die sowohl motivierend als auch informierend sind, möglichst offene Fragen mit unterschiedlichem kognitiven Niveau, die Vermittlung von kognitiven und metakognitiven Lernstrategien und weitere lernbegleitende Verhaltensweisen wie das Scaffolding (vgl. auch 3.2.2). Bolhuis und Voeten (2001) grenzen als drei Unterrichtsformen traditionellen Unterricht (stark lehrerzentriert), aktivierenden Unterricht (Lernende werden aktiv eingebunden, aber wenig unterstützt) und prozessorientierten Unterricht (Lernende werden aktiv eingebunden und unterstützt) voneinander ab und zeigen, dass prozessorientierte Unterrichtsformen in der Sekundarstufe 1 in den Niederlanden am seltensten realisiert werden. Ein ähnliches Bild ergab sich in der Befragungsstudie von Stebler und Reusser (2000) als Erweiterung der TIMS-Studie. Im Anfangsunterricht in der Grundschule – der in der vorliegenden Arbeit untersucht wird – könnte aber gerade diese Kombination aus Aktivierung und Unterstützung lernförderlich sein (vgl. auch Hamre & Pianta, 2005; Hardy, Jonen, Möller & Stern, 2006).