Die sozial-konstruktivistische Perspektive
Nach der sozial-konstruktivistischen Perspektive, die vor allem von Wygotski geprägt wurde (z. B. Wygotski, 1986, 1987), wird angenommen, dass Lernen in Zusammenarbeit stattfindet, indem die Lernenden untereinander und mit der Lehrperson gemeinsam Wissen ko-konstruieren, das heißt Ideen und Erklärungen austauschen, diskutieren und dadurch Wissen aufbauen und verändern, welches vom einzelnen Lernenden dann wiederum internalisiert wird (Woolfolk, 2008). Durch Meinungsverschiedenheiten unterschiedlicher Personen entstehen kognitive Konflikte, deren Wahrnehmung und Auflösung dann die Erweiterung und Modifizierung der individuellen Wissensstrukturen zur Folge haben kann (Reusser, 2006). Der Umwelt und den stattfindenden sozialen Interaktionen wird hier im Vergleich zu den kognitiv-konstruktivistischen Ansätzen also eine entscheidendere Funktion zugesprochen: „Jeder Unterrichtsprozeß ist Quelle für die Entwicklung. Er aktiviert eine Reihe von Prozessen, die ohne ihn in der Entwicklung überhaupt nicht entstehen könnten“ (Wygotski, 1987, S. 304). Die Aufgabe der Lehrperson besteht daher zum einen – wie bereits Aebli annimmt – darin, geeignete Problemsituationen bereitzustellen, über die ein Austausch stattfinden kann, zum anderen aber auch in der Sicherung der Qualität des Unterrichtsgesprächs (Pauli, 2006a, b), da die Sprache als bedeutsames kulturelles Werkzeug eine wichtige Funktion für den Wissenserwerb einnimmt (Wygotski, 1986; Woolfolk, 2008). Ein wichtiges Konzept aus Wygotskis Theorie ist die Zone der nächsten Entwicklung, die das „Verhältnis zwischen der Entwicklung des Kindes und den Möglichkeiten, es zu unterrichten“ (Wygotski, 1987, S. 298) betrifft. Die Zone der nächsten Entwicklung umfasst die „Differenz zwischen dem Niveau, auf dem die Aufgaben unter Anleitung, unter Mit Hilfe der Erwachsenen gelöst werden, und dem Niveau, auf dem das Kind Aufgaben selbständig löst“ (Wygotski, 1987, S. 300). Daraus ergibt sich nach Wygotskis Theorie die Konsequenz, dass nur derjenige Unterricht gut ist, „der der Entwicklung vorauseilt“ (1987, S. 34). In sozial-konstruktivistischen Theorien wird also die Bedeutung kompetenterer Anderer betont, die den Schüler oder die Schülerin im Lernprozess bedeutsam voranbringen können. Diese Unterstützung wird aufbauend auf Wygotski oft mit dem Begriff des Scaffolding beschrieben (Wood, Bruner & Ross, 1976), da das Verhalten der Lehrperson hier als eine Art Gerüst fungiert, indem die Lehrkraft den Lernenden durch gezielte instruktionale Strategien in der Zone der nächsten Entwicklung voranbringt, dabei aber nur so viel hilft wie nötig (z. B. Reiser, 2004) und diese Hilfen wieder schrittweise reduziert. Möller, Hardy, Jonen, Kleickmann und Blumberg (2006) zählen unter anderem folgende Aspekte von Scaffolding auf: Gliederungsmaßnahmen zur Reduktion der Komplexität des Lerngegenstands, Hilfen zur Fokussierung auf die relevanten Inhalte, Impulse und Denkanstöße, Problematisierungshilfen, die Aufforderung zum Überprüfen von Vermutungen und zum Begründen von Aussagen, Zusammenfassungen sowie die Nutzung von Advance Organizern. Weitere Merkmale konstruktivistisch orientierter Unterrichtsgestaltung werden im folgenden Abschnitt beschrieben.