Sind die Ordensgelübde noch zeitgemäß?

Notker Wolf: Die Gelübde sind absolut zeitgemäß (siehe auch Frage 12). Sie bedeuten eigentlich, frei zu sein von Abhängigkeiten, und das ist ja die eigentliche Verwirklichung, dass der Mensch zu einem selbständigen, freien Wesen wird. Dies heißt natürlich nicht, dass er ohne Bindung sein soll. Sondern er soll sich befreien von vielen Trieben, zum Beispiel Besitzstreben, Ehrgeiz, Neid, Habsucht bis hin zu Sexualität, zu übermäßigem Essen und Schlafen. Das sind ja alles Naturtriebe, und die müssen kanalisiert werden. Der Gehorsam ist für mich das entscheidendste der drei Gelübde, nämlich die totale Hingabe an Gott. Und Gott will mein Bestes, er nimmt mich sehr ernst, dafür hat er mich ja geschaffen. Die Gebote Gottes sind eine Wegweisung für mich, eine Hilfe und keine Unterdrückung.

Als Führungskraft im Ordensbereich hat man die Aufgabe, die Wünsche des Einzelnen in das Ganze einzubinden. Der Abt lebt ja mit und für die Gemeinschaft. Und eine Gemeinschaft braucht jemanden, der sie zusammenhält, sonst zerfallt sie, das ist eine ganz natürliche Angelegenheit. Das ist heute für die Oberen etwas schwieriger geworden, aber das ist für alle Führungskräfte so. Früher hat man eher etwas angeordnet, heute muss das im Dialog mit dem Einzelnen passieren. Aber letzten Endes muss der Einzelne auch heute noch bereit sein zum Gehorsam.

Was versteht Notker Wolf unter Spiritualität?

Notker Wolf: Das ist heute ein moderner, zum Teil sehr verwaschener Begriff. Christliche Spiritualität ist die Ausrichtung am Evangelium, die Nachfolge Christi, die für jeden Menschen gilt, ernst zu nehmen und sich von Gott leiten zu lassen.

Spiritualität kommt ja eigentlich von «Spiritus», vom Heiligen Geist, und das würde bedeuten, sich vom Heiligen Geist leiten zu lassen. Ich versuche, Spiritualität zu leben, indem ich der Regel Benedikts folge, die den ganzen Tageslauf bestimmt. Wichtig ist, sich als Geschöpf Gottes wahrzunehmen und sich nicht zu sagen: «Ich bin der große Macher.» Ich selber bin gar nicht so wichtig. Wenn die Menschen in dieser Welt sich nicht immer so wichtig nähmen, dann gäbe es weniger Krieg und mehr Frieden.

 
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