Wozu braucht man komplexe Zahlen?

Quadratzahlen sind immer positiv. Egal, ob wir die Zahl 2 quadrieren oder 7,28 oder eine negative Zahl wie -276, immer ist das Ergebnis des Quadrierens positiv. Denn wie wir wissen, ist minus mal minus gleich plus.

Daher ist die Frage nach der Wurzel aus einer negativen Zahl, zum Beispiel der Wurzel aus —1, «offensichtlich» falsch gestellt. Keine reelle Zahl kann die Wurzel aus —1 sein, denn diese Zahl müsste quadriert — 1 ergeben, was offenbar nicht möglich ist.

Im 16. Jahrhundert tauchte aber genau dieses Problem, nämlich Wurzeln aus negativen Zahlen zu ziehen, auf. Und zwar als Hintergrund scheinbar unschuldiger Aufgaben. Zum Beispiel behandelte der italienische Universalgelehrte Gerolamo Cardano (1501-1576), der Mathematiker, Arzt, Astrologe und vieles mehr war, die Aufgabe, zwei Zahlen zu finden, deren Produkt 40 und deren Summe 10 ist. Wenn wir die eine x nennen, ist also die andere 10 —x, und das Produkt ist x(10 —x). Also muss man die Gleichung x(10 —x) = 40 lösen. Umgeformt lautet diese Gleichung x2 — 10x + 40 = 0. Diese Gleichung hat aber keine Lösung. Keine reelle Lösung. Das heißt, es gibt kein reelles x, das diese Gleichung erfüllt.

Man kann aber einfach die sogenannte p,q-Formel anwenden. Mit dieser Formel kann man die Lösungen einer quadratischen Gleichung x2 + px+q = 0 berechnen. In unserer obigen Gleichung ist p= —10 und q = 40. Im Allgemeinen erhält man zwei Lösungen, nämlich

Wenn man diese Formeln stur auf die Gleichung von Cardano anwendet, kommt man auf die «Lösungen» - +VZ45 und 5-^-15.

Was soll das bedeuten? Zunächst gar nichts. Cardano hantierte mit diesen «Ausdrücken», ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, ob das wirkliche Zahlen sind. In der Tat ist es so: Wenn man x=5+-^45 in x(10 — x) einsetzt und dann formal rechnet, erhält man als Ergebnis tatsächlich 40.

Man nennt die Wurzeln aus negativen Zahlen «imaginäre» Zahlen. Also sind und imaginäre Zahlen. Zahlen wie die aus einem «Realteil» und einem «Imaginärteil» bestehen, heißen «komplexe» Zahlen.

Ein wichtiges Thema der Mathematik des 16. Jahrhunderts war die Lösung von kubischen Gleichungen, also von Gleichungen dritten Grades, wie zum Beispiel x3 + 6x —7 = 0. Die Lösungsformeln heißen heute «Cardano’sche Formeln», obwohl Cardano sie nicht erfunden, sondern nur veröffentlicht hat. Das Erstaunliche ist, dass man bei der Lösung von Gleichungen dritten Grades keine «neuen Zahlen» einführen muss, sondern dass man mit den imaginären bzw. komplexen Zahlen auskommt. Allerdings: Während man bei den quadratischen Gleichungen sagen könnte, «diejenigen mit nichtreellen Lösungen lassen wir einfach links liegen», sind komplexe Zahlen bei der Lösung kubischer Gleichungen unvermeidlich.

Genauso ist es bei Gleichungen vierten Grades. Die Vermutung lag dann nahe, dass man alle Gleichungen, also Gleichungen beliebig hohen Grades, innerhalb der komplexen Zahlen lösen kann. Dieser «Fundamentalsatz der Algebra» wurde zum ersten Mal 1799 von Carl Friedrich Gauß bewiesen. Gauß war sich der Bedeutung dieses Ergebnisses wohl bewusst, denn er hat im Laufe seines Lebens drei grundsätzlich verschiedene Beweise dieses Satzes veröffentlicht.

Gauß sorgte aber auch dafür, dass die imaginären und komplexen Zahlen ein volles Existenzrecht erhielten. Er interpretierte dazu die komplexen Zahlen geometrisch: In der normalen Ebene liegen die reellen Zahlen auf der x-Achse. Die imaginären Zahlen werden mit den Punkten der y-Achse identifiziert. Die imaginäre Einheit j=VZT steht an der Stelle 1 und ihre Vielfachen an den entsprechenden Stellen: Die Zahl 5i steht fünf Einheiten über der x-Achse, die Zahl

— 3i drei Einheiten darunter. Die komplexen Zahlen im Allgemeinen sind dann die Punkte der Ebene. 5+V=T5 =5+Vl5 i ist der Punkt mit der x-Koordinate 5 und der y-Koordinate <11.

Diese Darstellung geht auf den Mathematiker Caspar Wessel (1745-1818) zurück, wurde aber durch Gauß allgemein bekannt gemacht und ist seit dieser Zeit akzeptiert.

Das weiß jeder Physiker und Ingenieur, denn viele Gleichungen, die in der Ingenieursmathematik oder in der theoretischen Physik auftreten, können nur durch intensiven Gebrauch von komplexen Zahlen gelöst werden.

 
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