Lesen als kulturelle Praxis in der Lesesozialisationsforschung

Neben diesem kognitionstheoretisch orientierten Kompetenzmodell definiert auch die Lesesozialisationsforschung (z. B. Groeben & Hurrelmann, 2002, 2004) Lesen als Verstehensprozess, der vielfache Anforderungen an den Leser stellt, sie setzt dabei aber andere Schwerpunkte (zsf. z. B. Kleinbub, 2010; Rieckmann, 2010), ist stärker normativ geprägt, noch wenig empirisch überprüft und integriert beispielsweise auch leseund literaturdidaktische Prozesse. Lesekompetenz wird hier nicht nur instrumentell verstanden (z. B. Hurrelmann, 2002, 2007), sondern breit definiert als „Textverstehen im Horizont einer kulturellen Praxis, zu der es gehört, dass sich (1) kognitives Textverständnis, (2) Motivation und emotionale Beteiligung, (3) Reflexion und Anschlusskommunikation (mit anderen Lesern) ergänzen und durchdringen“ (Hurrelmann, 2007, S. 24; Rosebrock, 2009; Rosebrock & Nix, 2008). Lesen wird damit als Mehrebenenkonstrukt konzeptualisiert (Rosebrock, 2009). Während im Zentrum die kognitiven Leseprozesse stattfinden, ist der Leser zusätzlich als „Subjekt“ beteiligt und wird von seinem sozialen Umfeld (z. B. dem schulischen Unterricht) beeinflusst. Lesefördermaßnahmen können dementsprechend an jeder Ebene des Lesens ansetzen (Rosebrock & Nix, 2008).

5.1.2.3 Entwicklung des Lesens

Modelle zur Entwicklung des Lesens beschreiben den Lesevorgang meist in Anlehnung an kognitiv orientierte Informationsverarbeitungsmodelle als Prozess und gehen von qualitativen Entwicklungsstufen aus, die in neueren Modellen aber eher als kontinuierliche Fertigkeitsentwicklung anstatt als qualitative Sprünge konzeptualisiert werden (Schneider, 2010). Dabei wird von Übergängen in der Lesekompetenz ausgegangen, die sich darin zeigen, dass unterschiedlich effektive Strategien eingesetzt werden (Artelt et al., 2007; Schabmann & Klingebiel, 2010; Schneider, 2010). Es wird angenommen, dass die Schülerinnen und Schüler bereits mit für das Lesen relevanten Vorkenntnissen in die Schule kommen und sich in diesen deutlich unterscheiden (zsf. Artelt et al., 2007; Schneider, 2010). Im Allgemeinen wird in Modellen zur Entwicklung der Lesefähigkeit davon ausgegangen, dass Kinder vor Schuleintritt ganzheitlich „lesen“, indem sie Wörter aufgrund hervorstechender visueller Merkmale – wie den Anfangsbuchstaben – erkennen, bevor dann die alphabetische Strategie, also die systematische Laut-Buchstaben-Zuordnung, angewendet wird (zsf. Artelt et al., 2007; Scheerer-Neumann, 1998;). Wie auch bei anderen kognitiven Fähigkeiten entsteht die Lesefertigkeit durch die schrittweise Automatisierung der Lesehandlung „als Resultat der wiederholten Ausführung (der Übung)“ (Haider & Hoyndorf, 2006, S. 275). Ist das Lesen schließlich automatisiert, so erfolgt es schnell, weitgehend fehlerfrei und erfordert nur noch wenig kognitive Kapazität (Haider & Hoyndorf, 2006).

Im Verlauf des ersten Schuljahres soll zunächst vor allem das flüssige Lesen erlernt werden (Mayer, 2003; McElvany, 2008), wobei in den Lehrplänen immer auch die Verknüpfung mit dem Leseverständnis betont wird (z. B. Sächsisches Staatsministerium für Kultus, 2009). Bis zum Ende des ersten Schuljahres beherrschen die meisten Schülerinnen und Schüler die LautBuchstaben-Zuordnung und können Laute zu Wörtern synthetisieren, sodass auch das Erlesen von unbekannten oder Pseudo-Wörtern möglich ist. Der Lesevorgang wird schrittweise flüssiger, wobei hier große interindividuelle Unterschiede beobachtbar sind (Klicpera & GasteigerKlicpera, 1993). Im weiteren Verlauf verbraucht der Lesevorgang immer weniger kognitive Ressourcen, da Wortbilder oder Morpheme eingeprägt wurden und so automatisch abgerufen werden können (Artelt et al., 2007; Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1993; Schneider & Näslund, 1999). So verliert der indirekte Weg zum Worterkennen über die Laut-Buchstaben-Zuordnung im Verlauf der Leseentwicklung an Bedeutung, da das semantische Lexikon einen direkten Zugriff auf den Klang und die Bedeutung des Wortes ermöglicht (vgl. „Zwei Wege“-Modell von Coltheart, 2007).

Schneider (2010) kritisiert an der Vielzahl der Entwicklungsmodelle, dass sie die Lesegenauigkeit und -geschwindigkeit fokussieren und damit das Leseverständnis weitgehend ausklammern, obwohl es zentral zum Konzept der Lesekompetenz gehört. Da es sowohl bei ungeübten als auch geübten Lesern dazu kommen kann, dass Schülerinnen und Schüler zwar richtig dekodieren, dabei jedoch das Gelesene nicht oder nur unzureichend verstehen (Holle, 2006), ist es aber bedeutsam, dass die Lehrperson die Aufmerksamkeit immer wieder auch auf das verstehende Lesen legt. Die IGLU-Erhebungen im Jahr 2006 zum Leistungsstand von Viertklässlern (Bos et al. 2007) zeigen, dass 11 % der Schülerinnen und Schüler die höchste Kompetenzstufe V erreichen und damit in der Lage sind, zu abstrahieren, zu verallgemeinern und Präferenzen zu begründen. Kompetenzstufe IV – die Fähigkeit zum Erfassen der Hauptgedanken und Handlungsabläufe eines Textes – wird von 52 % der Schülerinnen und Schüler erreicht. 87 % der Schülerinnen und Schüler sind in der Lage, einzelne Informationen in Texten zu finden und in Beziehung zueinander zu setzen (Stufe III). 13 % der deutschen Viertklässler erreichen Stufe III nicht und zählen damit zu den Risikokindern: 11 % der Schülerinnen und Schüler erreichen nur Kompetenzstufe II und sind damit lediglich in der Lage, einzelne Informationen aufzufinden. Immerhin knapp 3 % der Schülerinnen und Schüler erreichen bis zum Ende der Grundschulzeit nur Kompetenzstufe I: Sie können zwar einzelne Wörter und Sätze erlesen, das Erschließen von einzelnen Informationen daraus gelingt aber nicht.

Dass Leistungsunterschiede im Lesen über viele Schuljahre relativ stabil bleiben (Juel, 1988; Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1993; Schneider, 2008; Schneider & Näslund, 1999), spricht einerseits dafür, dass im Bereich Lesen individuellen und familiären Determinanten eine hohe Bedeutung zukommt, die über den Unterricht nur schwer ausgeglichen werden können. Andererseits weist der Befund aber auch darauf hin, dass den ersten Schuljahren eine hohe Bedeutung für die Leseentwicklung zukommt (Pianta, Belsky, Vandergrift, Houts & Morrison, 2008; Torgesen & Burgess, 1998; zsf. Sonnenschein, Stapleton & Benson, 2010). Auch in Poerschkes (1999) theoretischem Modell zur Entwicklung der Lesefähigkeit im ersten Schuljahr spielt der Unterricht eine zentrale Rolle. So geht er von einem unmittelbaren Einfluss unterrichtlicher Prozessvariablen und Rahmenbedingungen auf die erreichte Lesefähigkeit aus. Indirekt besteht auch ein Einfluss der strukturellen Rahmenbedingungen in der Schule, wobei Ergebnisse der Hattie-Studie (2009, Hattie et al., 2013) belegen, dass diese strukturellen Rahmenbedingungen (z. B. finanzielle Ausstattung, Schulgröße, Schulleitung etc.) im Allgemeinen einen deutlich geringeren Effekt auf die Schülerleistungen haben als der Unterricht selbst. Als nicht-schulische Einflussfaktoren benennt Poerschke (1999) individuelle und familiäre Voraussetzungen, die sowohl die (basale) Lesefähigkeit bei Schuleintritt beeinflussen als auch während des ersten Schuljahres weiterhin Einfluss auf die Leseentwicklung nehmen können.

 
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