Determinanten der Lesekompetenz auf Individualebene
Neben der Ableitung von Merkmalen guten Leseunterrichts aus Prozessmodellen des Leseverstehens und der Leseentwicklung ist auch die Beschäftigung mit individuellen Determinanten der Lesekompetenz sinnvoll, weil diese mögliche Ansatzpunkte für eine unterrichtliche Förderung darstellen (vgl. auch Artelt, Schiefele & Schneider, 2001). Wie auch bei anderen Schulleistungen, muss bei der Lesekompetenz von einem multikausalen Bedingungsgeflecht aus individuellen und sozialen Determinanten ausgegangen werden (Hellmich, 2008). Zu den bedeutsamen individuellen Determinanten zählen vor allem folgende kognitive Merkmale:
Ÿ Intelligenz/kognitive Grundfähigkeit (z. B. Artelt et al., 2001a, b; zsf. Schaffner, 2009),
Ÿ Vorwissen (z. B. Adams, Bell & Perfetti, 1995; Alexander & Kulikowich, 1991; Artelt et al., 2001a; Schneider, Körkel & Weinert, 1989; zsf. Artelt et al, 2007; Kleinbub, 2010; McElvany, 2008; Pang, Muaka, Bernhardt & Kamil, 2003; Schaffner, Schiefele & Schneider, 2004; Schaffner, 2009; Streblow, 2004),
Ÿ Arbeitsgedächtniskapazität (z. B. Di Vesta & Di Cintio, 1997; Loosli, Buschkuehl, Perrig & Jaeggizit, 2011; Palladino, Cornoldi, De Beni & Pazzaglia, 2001; Seigneuric, Ehrlich, Oakhill
& Yuill, 2000; Thomas, 1997; zsf. McElvany, 2008; Schreblowski, 2004),
Ÿ Dekodierfähigkeit und -geschwindigkeit (z. B. Graesser, Hoffman, & Clark, 1980; Juel, 1988; Kuhn & Schwanenflugel, 2006; Thorndike, 1973; van Kraayenoord & Schneider, 1999; zsf. Artelt et al., 2001a; McElvany, 2008; Pang et al., 2003; Schaffner, 2009; Schaffner et al., 2004; Stanovich, 1980),
Ÿ Wortschatz (zsf. Artelt et al., 2007; Baumann, 2009; Kleinbub, 2010; McElvany, 2008; Pang et al., 2003),
Ÿ Verfügbarkeit und Einsatz von Lesestrategien (z. B. Artelt, Baumert & McElvany, 2003; Artelt et al., 2001a; National Institute of Child Health and Human Development, 2000; Röschl-Heils, Schneider & van Kraayenoord, 2003; Schaffner et al., 2004; zsf. Artelt et al., 2007; Kleinbub, 2010; McElvany, 2008; Schaffner, 2009; Schreblowski, 2004)
Ÿ und Metakognition (z. B. Borkowski, Johnston & Reid, 1987; Garner, 1988a; National Institute of Child Health and Human Development, 2000; Paris, Lipson & Wixson, 1994; Roeschl-Heils et al., 2003; van Kraayenoord & Schneider, 1999; zsf. Artelt et al., 2001b; Baker & Carter Beall, 2009; Hasselhorn, 2010; Israel, Block, Bauserman & Welsch, 2005; McElvany, 2008; Schaffner et al., 2004).
Des Weiteren sind folgende nicht-kognitive Determinanten zu nennen:
Ÿ Lesemotivation (z. B. Guthrie & Wigfield, 2000; Roeschl-Heils et al., 2003; Schiefele, 1996; zsf. Artelt et al., 2001b; Kleinbub, 2010; McElvany, 2008; Schaffner, 2009; Schaffner et al., 2004),
Ÿ Interesse (z. B. Schiefele, 1996, 1999; Schiefele & Krapp, 1996; van Kraayenoord & Schneider, 1999; zsf. Artelt et al., 2001b; McElvany, 2008; Schaffner, 2009; Schreblowski, 2004)
Ÿ und das Leseselbstkonzept/das verbale Selbstkonzept (z. B. Artelt et al., 2003; Lüdtke, Köller, Artelt, Stanat & Baumert, 2002; van Kraayenoord & Schneider, 1999; zsf. Artelt et al., 2001b; McElvany, 2008; Schaffner et al., 2004).
Nach dem National Reading Panel (National Institute of Child Health and Human Development, 2000) sind es vor allem folgende fünf Determinanten, die bedeutsam für die Leseleistung sind: die phonologische Bewusstheit, das sichere Beherrschen der Phonem-GraphemKorrespondenzen, die Leseflüssigkeit, der Wortschatz und das Leseverständnis. In der PISAStudie werden folgende Schlüsselfaktoren der Lesekompetenz identifiziert: kognitive Grundfähigkeit, inhaltliches Vorwissen, Lernstrategiewissen, Dekodierfähigkeit sowie inhaltliches Interesse (Artelt et al., 2001b). Da Schülerinnen und Schüler mit hohem Lernstrategiewissen und Interesse im Vergleich zu solchen mit niedrigem Lernstrategiewissen und Interesse, aber mit vergleichbar hoher kognitiver Grundfähigkeit und Dekodierfähigkeit, höhere Werte im Lesekompetenztest erzielen (Artelt et al., 2001b), und diese Faktoren beeinflusst werden können, wird insbesondere der Förderung von Strategien und Leseinteresse große Bedeutung beigemessen (vgl. auch Frederking, 2005).
Nach Richter und Christmann (2002) sind zur Erklärung von Leistungsunterschieden im Bereich Lesen vor allem drei Faktoren relevant: (1) der Worterkennungsprozess, also effiziente phonologische Rekodierungsprozesse und ein schneller lexikalischer Zugriff (vgl. die Theorie der verbalen Effizienz von Perfetti, 1985), (2) die Arbeitsgedächtniskapazität (vgl. die Kapazitätstheorie von Just & Carpenter, 1992) sowie (3) das Vorwissen, das nötig für ein hochwertiges Situationsmodell ist (vgl. die Schematheorie von Spiro, 1980).
Eine systematische Übersicht zu verschiedenen Determinanten der Lesekompetenz in Bezug auf den Leseprozess veröffentlichen Artelt und Kollegen (2007) in Anlehnung an Jenkins (1979) in ihrer Expertise zur Förderung von Lesekompetenz. Ihr sogenanntes Tetraedermodell umfasst je zwei leserund zwei textbezogene Merkmalsklassen, die sich wechselseitig beeinflussen. Zu den leserbezogenen Determinanten zählen die Merkmale des Lesers wie Vorwissen, der lexikalische Zugriff (Worterkennungsprozesse), Wortschatz, Motivation, Einstellungen, Kenntnis von Textmerkmalen und Lernstrategiewissen sowie die Aktivitäten des Lesers: der adaptive Einsatz von Lesestrategien, die Verstehensüberwachung und die Selbstregulation. Auch die beiden textbezogenen Kategorien Leseanforderungen (verstehendes, kritisches, reflexives oder involviertes Lesen) und die Beschaffenheit des Textes üben Einfluss darauf aus, ob erfolgreich gelesen wird (Artelt et al., 2007). Für differenzierte Ausführungen zu den einzelnen Determinanten wird auf Artelt und Kollegen (2007) verwiesen. Ansatzpunkte für eine schulische Förderung oder Unterstützung des Leseprozesses bieten aber grundsätzlich alle vier Merkmalsbereiche: Zum einen kann die Lehrperson passende Texte auswählen und zum anderen können explizit einzelne individuelle Determinanten, wie das Lernstrategiewissen oder die Motivation gefördert werden. Außerdem kann die Lehrperson die Schülerinnen und Schüler im Unterricht dazu anregen, sinnvolle Leseaktivitäten auszuwählen und einzusetzen.
Insgesamt zeigen gute Leser ein aktives Leseverhalten, zeichnen sich durch schnelles und genaues Wortlesen aus, setzen sich Ziele, nehmen die Struktur des Textes wahr, überwachen ihr Verstehen, machen Voraussagen, aktivieren ihr Vorwissen und integrieren dieses sinnvoll, ziehen Schlüsse aus dem Gelesenen, visualisieren das Gelesene und stellen Fragen an den Text (z. B. Duke & Pearson, 2002; Klingner, Vaughn & Boardman, 2007; Paris & Oka, 1986; Westphal Irwin, 1991). Zusammenfassend kann hieraus abgeleitet werden, dass gute Leser kognitiv aktive Leser sind. Inwiefern der Leseunterricht diese kognitive Aktivität fördern kann, wird im Folgenden thematisiert.