Sprache und Schrift
Welche Sprachen und Völker gibt es?
Die Frage nach der Sprache der Chinesen bedeutet: Wer ist eigentlich ein
Chinese? Sind zum Beispiel die über 16 Millionen Zhuang, eine Minorität, die vor allem in der Provinz Guangxi lebt, Chinesen? Sie gehören offiziell nicht den Han-Chinesen an, die 92-94 Prozent der Bevölkerung des Landes stellen, und haben eine eigene Sprache, die in Guangxi sogar Amtssprache ist und seit etwa fünfzig Jahren mit dem lateinischen Alphabet geschrieben wird. Diese Sprache ist mit dem Chinesischen nicht - oder zumindest nicht direkt - verwandt. Doch die meisten Zhuang sprechen mittlerweile aufgrund des hohen Assimilierungsdruckes Chinesisch. 55 anerkannte nationale Minoritäten gibt es, von denen aber den amtlichen Zahlen zufolge nur 18 mehr als eine Million Menschen umfassen.
In Nordostchina leben die Mandschuren, Nachfahren des Volkes, das die letzte Herrscherdynastie Chinas stellte. Nachdem sie im Anschluss an die Revolution von 1911 jahrelang Verfolgungen ausgesetzt gewesen waren, bekennen sich seit etwa zwanzig Jahren wieder zunehmend mehr Menschen dazu, dieser Minorität anzugehören - über zehn Millionen sind es heute. Doch auch sie sprechen fast ausnahmslos Chinesisch und sind von Chinesen nicht zu unterscheiden. Kürzlich kündigten chinesische Zeitungen den unmittelbar bevorstehenden Tod der mandschurischen Sprache an. Ähnlich sieht es mit den knapp zehn Millionen Hui aus, die in der Volksrepublik China (nicht auf Taiwan) nur deshalb als Minorität anerkannt sind, weil sie muslimischen Glaubens sind. Ihnen ist die autonome Provinz Ningxia zugewiesen, die allerdings mehrheitlich von Han bewohnt wird. Die meisten Angehörigen der über acht Millionen Miao, die in der Provinz Guizhou immerhin etwa 15 Prozent der Bevölkerung stellen, sprechen ihre eigene Sprache, die mit dem Chinesischen entfernt verwandt ist.
Weitere große Minderheiten sind die Uiguren (offiziell etwas über acht Millionen, von denen über sieben Millionen in Xinjiang leben), die Mongolen (knapp sechs Millionen - und damit deutlich mehr als in der unabhängigen Äußeren Mongolei -, die hauptsächlich in der Inneren Mongolei leben) und die Tibeter (etwa 5,5 Millionen), die offiziell wie die Zhuang nicht zu den Han zählen - aber nach amtlicher Definition Bürger des chinesischen Staates sind. Alle drei zuletzt genannten Völker sprechen eigene Sprachen: Das Uigurische gehört zu den Turksprachen und das Mongolische zu den mit diesen weitläufig verbundenen mongolischen Sprachen. Beide haben mit dem Chinesischen weder von der Grammatik noch vom Vokabular her Gemeinsamkeiten. Über acht Millionen Menschen umfasst zudem die Gruppe der in den zentralchinesischen Provinzen Hubei und Hunan sowie in Sichuan und Guizhou lebenden Tujia, die allerdings mittlerweile wie die Zhuang und die Mandschuren zu großen Teilen hochchinesisch sprechen. Zu den großen Bevölkerungsgruppen zählen schließlich die Yi mit etwa sieben Millionen Angehörigen, die sich auf den Südwesten Chinas verteilen und heute eine eigene Silbenschrift schreiben. Alle anderen Minoritäten kommen nicht über die Zahl von drei Millionen Menschen hinaus.
Ein großes Problem bei der Klassifizierung stellen die Sonderrechte der Minoritäten dar. Unter anderem dürfen sie nicht nur ein, sondern zwei Kinder bekommen. Diese Regelung hat dazu geführt, dass viele eigentlich längst assimilierte Han-Chinesen sich ihrer nicht den Han zugehörigen Vorfahren erinnerten. Aus diesem Grund sind Zahlen, die suggerieren, weit über hundert Millionen Chinesen gehörten in Wahrheit Minoritäten an, mit Vorsicht zu betrachten. Auf der anderen Seite stellen bestimmte Volksgruppen die offiziell erhobenen Zahlen massiv in Frage: Manche Aktivisten behaupten zum Beispiel, dass es in ganz China nicht acht bis zehn, sondern in Wahrheit dreißig Millionen Uiguren gebe. Mehrfach haben übrigens uigurische, das heißt turkstämmige Muslime aus der autonomen Provinz Xin jiang («Neue Territorien»), Anschläge verübt. Dieses Gebiet, das im Westen auch unter dem Namen «Ostturkestan» bekannt ist, hat sich dem Druck aus der Hauptstadt nie ganz gebeugt: Schon im
19. Jahrhundert gelang es der Zentralregierung nur schwer, Revolten niederzuschlagen, und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts machten sich in der Region Kriegsherren selbständig. Nach 1949 unterwarf China die Neuen Territorien erneut, schaffte es aber nicht, den Autonomiestatus mit entsprechenden Rechten zu unterfüttern. Von Anfang an, verstärkt aber seit den 80er Jahren, betrieb die Volksrepublik eine Kolonialisierungspolitik: Sie lockte Bewohner der übervölkerten Inlandsprovinzen mit der Aussicht auf Gehälter, die zum Teil beim Doppelten des normalen chinesischen Äquivalents lagen, nach Xin jiang und vervielfachte damit in kurzer Zeit den Anteil der Chinesen an der Bevölkerung.