Wann entstand der Daoismus?
Neben dem Konfuzianismus ist der Daoismus die zweite große autochthon chinesische Geistesrichtung. Das Phänomen Daoismus lässt sich ebenso wenig griffig definieren wie das des Konfuzianismus: Er tritt uns zunächst in Gestalt der
Philosophie des «Leitfaden von Weg und Tugend» (Dao de jing) entgegen, eines gereimten Textes in heute 81 Abschnitten (beiseiner Entstehung war er wahrscheinlich anders angeordnet) und fünftausend Worten, der nach traditioneller Vorstellung von Laozi, dem «Alten Meister», im 6. Jahrhundert v. Chr. verfasst worden sein soll. Die heutige Forschung ist sich nicht sicher, ob Laozi jemals gelebt hat und ob es überhaupt einen einzelnen Autor gegeben hat, der den Text geschrieben hat. Sie datiert ihn auch erst auf die Mitte des 4. Jahrhunderts vor Chr. Unzählige Male wurde er in europäische Sprachen übersetzt, allerdings nur selten von kompetenten Wissenschaftlern. Auch bei diesen reicht die Bandbreite der Interpretationen indessen von einem Herrschaftstext mit machiavellistischen Zügen bis zu mystischer Erweckungsliteratur.
Ein zweites wichtiges Werk, das am Anfang des Daoismus steht, ist das Zhuangzi, das auf einen Meister Zhuang Zhou zurückgeführt wird, der im 4. oder 3. vorchristlichen Jahrhundert gelebt haben soll. Der Text setzt sich vermutlich aus verschiedenen Stücken zusammen, die über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten, vielleicht bis ins 1. nachchristliche Jahrhundert hinein, geschrieben wurden. Das Material ist inhaltlich äußerst heterogen, doch ist Kritik am konfuzianischen Willen zur Ordnung der Welt zu erkennen. Konfuzianismus und Daoismus sind deshalb in späteren Zeiten gerne entlang dieser Linie geschieden worden: Die konfuzianische Lehre orientiert sich am äußeren, gesellschaftlichen Leben, die daoistische dient der inneren Zufriedenheit des Menschen. In späteren Zeiten gilt die Regel, dass Männer als Beamte tagsüber Konfuzianer sind, aber abends zu Hause Daoisten werden. Dass sich beide Einstellungen ausschlossen, scheint auch in der Zeit ihrer Entstehung eher die Ausnahme gewesen zu sein.
Ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. zeichnen sich Konturen einer daoistischen Religion ab, die Laozi als Heiligen oder Gott verehrt. Kultische Bewegungen entstehen, Staaten im Staate mit eigenen religiösen Führern, die den Kaisern der Späteren Han-Dynastie die Macht in ihren Herrschaftsbezirken streitig machen. Lebensverlängerungsmethoden verschiedenster Art bieten sie ihren
Anhängern an, Atemübungen (heute zum Beispiel bekannt als «Qigong»), Gymnastik (Vorläufer des auch hierzulande populären Taiji quan) und sogar Sexualübungen. Weil die Han-Dynastie kurz nach dem Entstehen der ersten dieser daoistischen Bewegungen zusammenbrach, rührt aus dieser Zeit eine Sorge, die chinesische Herrscher vieler späterer Dynastien plagte: dass nämlich das Aufkommen von Volkskulten ein Vorbote ihres eigenen Unterganges sein könnte. Zwischen dem 2. und dem 12. Jahrhundert wuchs der Daoismus zu einer religiösen Bewegung mit einer eigenen Mönchskultur heran. Unterschiedliche Schulen bildeten sich, von denen einige auch heute noch bestehen und das Bild der daoistischen Religion prägen.