Aus welchen Werken bestand der traditionelle Wissenskanon?

Im 2. Jahrhundert v. Chr. wurde die Kenntnis von Teilen eines Kanons, der fünf bzw. sechs kanonische Schriften umfasste, zum Standard für die Aufnahme in die kaiserliche Bürokratie gemacht. Dabei handelte es sich zum einen um das «Buch der Wandlungen» (Yijing), ein Werk aus der Zeit des beginnenden 1. Jahrtausends v. Chr., das der Divination diente und heute in der Übersetzung Richard Wilhelms auch im deutschsprachigen Raum zahlreiche Liebhaber hat. Zweitens um das «Buch der Urkunden» (Shangshu oder Shujing), eine Sammlung von Reden, in denen steht, wie die Gründer der Dynastie Zhou - und angeblich noch früherer Dynastien - das Reich durch segenbringende politische Maßnahmen ordneten. Wichtig war auch das «Buch der Lieder» (Shijing), in dem etwa 300 Gedichte versammelt sind, denen die Tradition einen politisch-moralischen Sinn unterlegt hat, sowie ein Kompendium von Ritenschriften mit dem Titel Yili und schließlich als einziges Werk, das Konfuzius selbst verfasst haben soll, die Frühlings- und Herbstannalen, eine Chronik seines Heimatstaates. Dazu trat ein Musikklassiker, über den wir allerdings heute nicht mehr viel wissen. Die einzelnen Texte wurden in unterschiedlichen Auslegungsarten vermittelt. Besonders über den Inhalt der Lieder und der Annalen gab es nämlich erhebliche Differenzen. Auch der Ritenbereich fächerte sich bald weiter auf. Zu dem eigentlichen Klassiker traten die «Aufzeichnungen über die Riten» (Liji), die offenbar ursprünglich den Charakter eines Kommentars hatten, bald aber mehr Bedeutung bekamen als das Yili selbst, und die «Riten der Zhou» (Zhouli), in denen eine wahrscheinlich fiktive Ämterhierarchie der Zhou-Dynastie festgelegt war.

Auf insgesamt 13 Kanonische Schriften kam China unter der letzten Dynastie, nachdem die erwähnten Kommentare und Ergänzungen sowie einige weitere Texte hinzugefügt worden waren. Obwohl der Kanon also recht umfangreich war, hat man ihn doch im allgemeinen einfach unter dem Begriff «Die Fünf kanonischen Schriften» gefasst. Er sollte bis zur großen Prüfungsreform des Jahres 1905 über einen Zeitraum von zweitausend Jahren Bestand haben: Die kanonischen Schriften standen in ihrer Bedeutung nicht hinter dem zurück, was die Bibel für den Westen war. Gebildete Personen hatten, übrigens nicht nur in China sondern in späteren Jahrhunderten auch in den angrenzenden Ländern Ostasiens, ab der Zeit der Tang zusätzlich die ersten drei von insgesamt 24 Dynastiegeschichten zu kennen: Die «Aufzeichnungen des Historiographen» (Shi ji), die eine Darstellung der Geschichte Chinas von den Anfängen bis zum Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. sind, das «Buch der [Früheren] Han» (Han shu) des Ban Gu (31-92 n. Chr.), das den Zeitraum von etwa 200 v. Chr. bis 0 abdeckt, und das «Buch der Späteren Han» des Fan Ye (398-445) für die ersten zwei nachchristlichen Jahrhunderte. Manchmal trat auch ein viertes Geschichtswerk hinzu, die «Traktate über die Drei Dynastien» (Sanguo zhi) des Chen Shou (233-297), die sich besonders in späterer Zeit großer Beliebtheit erfreuten. Nicht selten findet man als Zusammenfassung für diesen Kanon die Formel von den «Fünf kanonischen Schriften und den drei Geschichtswerken» (wu jing san shi).

Im 12. Jahrhundert machte sich eine Reformbewegung um den Philosophen Zhu Xi (1130-1200) daran, den offenbar aufgrund der vielen Auslegungen zu umfangreich gewordenen Kanon der «Fünf Schriften» zu reduzieren. Zhu Xi betonte für das Grundwissen nur noch die Notwendigkeit der Kenntnis zweier kurzer Ritenkapitel, nämlich der «Schrift von Maß und Mitte» und des «Großen Lernens», sowie der «Gespräche des Konfuzius» und des «Mengzi». Diese vier Texte übertrafen den alten Kanon bald an Bedeutung. Zusammen werden sie unter dem Begriff die «Vier Bücher» geführt. In den Jahrhunderten nach 1600 wurden sie zum Inbegriff des konfuzianischen Denkens in ganz Ostasien.

 
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