Gesellschaft
Sind die Menschen pragmatisch, esoterisch oder abergläubisch?
Unter Unternehmern wird gerne der große Pragmatismus der Chinesen gerühmt. Umgekehrt gibt es in Europa eine stattliche Fangemeinde chinesischer Esoterik. Wer sich in China ein wenig auskennt, staunt zudem darüber, wie viele Tabus es gibt: Bei bestimmten Verletzungen am Körper darf man bestimmte Dinge nicht tun, bei Schwangerschaft gelten allerhand Einschränkungen etc. In der Tat hat der «Aberglaube» eine alte Tradition. Henri Doree hat sein zu Anfang des 20. Jahrhunderts erschienenes Standardwerk mit dem Titel «Recherches sur les superstitions en Chine» (Untersuchungen zum Aberglauben in China) überschrieben. Der Brauch, einen Tagewähler zu befragen, der noch heute von vielen Menschen praktiziert wird, wenn sie eine größere Unternehmung (zum Beispiel eine Hochzeit oder ein Geschäft) vorhaben, ist bereits aus der Vorkaiserzeit bekannt. Als unglückbringend gilt die Zahl vier, die ähnlich lautet wie das Wort für «sterben», weshalb nicht selten in chinesischen Hotels der vierte Stock fehlt. Zahlenmystik spielt ohnehin eine wichtige Rolle: Die «acht» (ba) ist umgekehrt besonders glückbringend, weil sie ähnlich ausgesprochen wird wie «sich entwickeln» (fa) und im Ausdruck «reich werden» verwendet wird. Ebenso ist die Zahl neun, die höchste Yang-Zahl, ausgesprochen glückverheißend. Überall kann man auf dem Land Handleser und andere Wahrsager bei der Arbeit beobachten.
Dennoch ist auch die Annahme, die Chinesen seien pragmatisch, nicht von der Hand zu weisen: Obwohl viele in den Tempel gehen, um dort Weihrauch abzubrennen, ist ihr Ziel dabei zumeist auf das Diesseits bezogen. Die wichtigste Qualität, die Götter haben müssen, ist «Effizienz» oder «Wirksamkeit» - ein Gott, der nicht hilft, kann leicht durch Missachtung gestraft werden, indem er einfach keine Opfergaben mehr erhält. Bezeichnend ist überdies die
Zusammensetzung der chinesischen göttlichen Dreifaltigkeit, die in vielen Restaurants oder Privathaushalten bestaunt werden kann: Die drei Figuren verkörpern Reichtum, Beamtengehalt und langes Leben. Diese drei Dinge standen traditionell für das Paradies auf Erden. Pragmatismus und Esoterik müssen sich also durchaus nicht ausschließen.