Wirken Liebestränke?

Wer einen Liebestrank braucht, um die Liebe einer Frau oder eines Mannes zu erobern, der hat die Liebe schon von Anfang an verloren. Zwei haben es gewusst: Gottfried von Straßburg und Richard Wagner, als sie beide ihre Geschichte von Tristan und Isolde erzählen, der eine bis 1210, vermutlich seinem Todesjahr, so dass sein Roman unvollendet blieb, und der andere, Richard Wagner, von 1856 bis 1860, der wiederum auf Gottfrieds von Straßburg Text zurückgreift.

Im Kern erzählen beide dieselbe Geschichte. Doch bei Gottfried von Straßburg gibt es einen großen ersten Teil, der von Tristans Herkunft und Ausbildung erzählt, bis er die Voraussetzungen hat, an König Markes Hof zu gehen und dort zum Ritter geschlagen zu werden. Marke schickt Tristan nach Irland, um gegen Morolt zu kämpfen. Tristan tötet Morolt, wird aber von seinem giftigen Speer verwundet. Morolts Schwester Isolde (die Mutter der Titelheldin) pflegt ihn gesund. - Im zweiten Teil fährt Tristan unter dem Pseudonym Tantris ein zweites Mal nach Irland, diesmal, um für seinen König um die Hand der jungen Isolde anzuhalten. Nach etlichen Abenteuern und während der Rückfahrt trinken Tristan und Isolde einen Liebestrank, der eigentlich für Isolde und Marke vorgesehen war. Beide entbrennen in hoffnungsloser Liebe zueinander. Die Affäre muss, aber kann nicht geheim bleiben. Marke verbannt beide, sie kehren zurück, versöhnen sich mit ihm, können aber von ihrer Liebe nicht lassen. Tristan wird endgültig verbannt.

Wagner lässt die Handlung seiner Oper auf dem Schiff beginnen, das Tristan und Isolde nach Cornwall zurückbringt. Weil Isolde dieser Situation nicht gewachsen ist, in der sie den einen Mann lieben, den anderen ehelichen muss, will sie mit Hilfe eines Todestrankes mit Tristan einen erweiterten Suizid begehen. Brangäne, die Vertraute, vertauscht den Trank mit einem Liebestrank. Beide sinken sich in Liebesleidenschaft in die Arme. Die Affäre lässt sich dann vor Marke nicht mehr geheim halten. Tristan begibt sich ins Exil und ist tödlich getroffen. Nur Isolde kann ihn retten. Er fiebert dem verlorenen Liebesglück nach und verflucht den Liebestrank. Ein Schiff kommt an, das Isolde bringt. Es ist zu spät, und Tristan stirbt in Isoldes Armen.

Man macht es sich wohl zu einfach, wenn man dem Liebestrank im mittelalterlichen Text eine magische Funktion zuschreibt, im Text des 19. Jahrhunderts in ihm lediglich ein psychologisches Symbol erblickt, das nur äußerlich verdeutlicht, was schon längst im Inneren der Figuren geschehen ist: der Fall in die Liebe (wie der Engländer so schön sagt). Vielleicht würde man dabei auch mit zweierlei Maß messen. Im 19. Jahrhundert eine Ehebruchsgeschichte zu erzählen war wohl en vogue. Anders stellt es sich bei Gottfried dar: Dass eine Liebe mehr als die Ehe gilt, dass Liebe als alle Normen sprengende Kraft dargestellt und gefeiert wird, ist neu.

 
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