Warum ist Ruth die Lieblingsgestalt der feministischen Bibelleserinnen?

Frauen sind nicht zweitrangige, handlungsunfähige Menschen zweiter Klasse; das möchte die Frauenbewegung auch aus der Bibel belegen. Sie kann - mit Recht - auf die Gestalt der Ruth verweisen. Das Buch Ruth erzählt folgende Geschichte: Gemeinsam mit ihrem Mann war Noomi ins Land Moab aus gewandert, um einer Hungersnot zu entgehen. Als Witwe kehrt sie in ihre Heimatstadt Bethlehem zurück. Begleitet wird sie von ihrer jungen, jedoch ebenfalls verwitweten Schwiegertochter Ruth, einer Moabiterin. Ruth findet die Aufmerksamkeit von Boas, dem reichsten Mann der Stadt. Als es Ruth gelingt, Boas zu heiraten, sind die beiden Frauen der Sorge um das tägliche Brot enthoben. Ruth bringt einen Sohn zur Welt und wird so - wie der Schluss der Erzählung mitteilt - König Davids Urgroßmutter.

Erzählerischer Höhepunkt der Geschichte ist Ruths nächtlicher Heiratsantrag an Boas. Dem Rat von Noomi folgend begibt sich Ruth, frisch gebadet und parfümiert, zur Tenne der Stadt, wo Boas im Freien übernachtet. Sie «deckt seine Füße auf» (was wohl heißen soll: seine Scham) und nimmt ihm das Versprechen ab, sie zu heiraten. Was in der Nacht auf der Tenne passiert ist, sollen sich Leser und Leserinnen selbst ausmalen. Jedenfalls entlässt Boas Ruth am Morgen als seine Braut - mit dem Eheversprechen und einem Sack Getreide. Möglicherweise ist der Ort des Geschehens bedeutungsvoll: Die Tenne, wo Getreide gedroschen und von der Spreu geschieden wird, könnte als Ort der Fruchtbarkeit gegolten haben; wer dort den Beischlaf vollzieht, hat gute Aussicht auf Nachkommenschaft.

Was Leserinnen an der Geschichte fesselt, sind zwei Züge: die unverbrüchliche Freundschaft zweier Frauen und die kühne

Eroberung eines Mannes durch eine selbstbewusste Frau.

 
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