War Karl der erste Kreuzfahrer?
Die Vorstellung, dass Karl der Große entweder als Pilger ins Heilige Land gereist sei oder einen Kreuzzug gegen die Muslime unternommen habe, reicht weit zurück. Schon am Ende des 10. Jahrhunderts berichtete die Chronik des Mönchs Benedikt vom Kloster am Berg Soracte nördlich von Rom, dass Karl einen Zug nach Jerusalem unternommen und von dort wertvolle Reliquien mitgebracht habe. Diese Vorstellung könnte auf die Nachricht zurückgehen, dass Karl die Christen im Heiligen Land in den ersten Jahren seines Kaisertums unter seinen Schutz gestellt habe.
In der Mitte des 11. Jahrhunderts wurde dann in Saint-Denis eine Legende von Karls Pilgerfahrt ins Heilige Land aufgezeichnet, in der seine angebliche Reise in den Orient, die ihn über Konstantinopel nach Jerusalem geführt haben soll, dargestellt wurde. Der Ansatzpunkt für diese Legende war, dass die im Kloster Saint-Denis liegende Dornenkrone Christi beglaubigt werden sollte: Karl habe diese Reliquie aus Konstantinopel mitgebracht.
Als in der Zeit des ersten Kreuzzugs (1096-1099) auch das altfranzösische Rolandslied (Chanson de Roland, um 1100) entstand, wurde darin auch Karls Spanienfeldzug von 777/78 als Kreuzzug gedeutet. In diesem Epos wird Karl in über 9000 Versen als Krieger und Kämpfer für Christus dargestellt. Um 1170 entstand am Hof Heinrichs des Löwen (Herzog von Sachsen und Baiern 1142-1180) eine deutsche Fassung dieses Versepos, in der der Zusammenhang mit den Kreuzfahrten des 12. Jahrhunderts noch deutlicher wird als in seinem französischen Vorbild. Heinrich der Löwe war bei der Heiligsprechung Karls im Jahr 1165 zugegen (siehe Frage 81), und er hat 1172 eine Wallfahrt ins Heilige Land unternommen.
Während das deutsche Rolandslied des 12. Jahrhunderts keine weite Verbreitung erlangt hat, entstanden im 13. und im 14. Jahrhundert weitere dichterische Werke mit dem Thema vom Kreuzfahrer Karl, wobei vor allem die Karlsdichtung des Stricker (entstanden ca. 1215-30) beachtliche Resonanz fand. Erhalten haben sich 24 vollständige Handschriften und 23 Fragmente; weitere sieben
Handschriften, die nicht mehr erhalten sind, kennen wir aus zeitgenössischen Nachrichten. Das Hauptthema dieses Epos mit seinen über 12 200 Versen ist abermals der Zug Karls nach Spanien, wobei mehrfach auf die Heiligkeit Karls hingewiesen wird. Viel größer noch als in Deutschland war die Zahl der Karlsdichtungen in Frankreich; bis 1450 entstanden hier über zwanzig Bearbeitungen des Karlsstoffs.
Neben diesen volkssprachigen Gedichten ist auf die lateinische Historia Rotholandi et Karoli Magni (Geschichte Rolands und Karls des Großen) hinzuweisen, die angeblich der 794 verstorbene Bischof Turpin von Reims verfasst haben soll. In diesem Text wird Karl nicht nur als Kreuzfahrer nach Spanien, sondern auch als Verehrer des Apostels Jakobus beschrieben. Das um 1140 entstandene Werk pries Karl als Bekämpfer der Heiden und Stifter von Kirchen und beabsichtigte vor allem, Kämpfer für den heiligen Krieg in Spanien zu rekrutieren. Der Pseudo-Turpin erreichte sowohl in seiner lateinischen Fassung als auch in den zahlreich entstehenden volkssprachigen Übersetzungen eine geradezu riesige Verbreitung. Das in dieser Dichtung entworfene Bild Karls prägte die Vorstellung der Menschen im Mittelalter stärker als alle anderen Berichte.