Warum beantworteten die Westmächte Hitlers Politik der Vertragsbrüche nicht mit einer militärischen Intervention?

Von allen außenpolitischen Manövern Hitlers nach 1933 war die Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands im März 1936 zweifellos die risikoreichste. Der Diktator war sich dessen durchaus bewusst. Nach glaubwürdigem Zeugnis hat er später die Stunden nach dem Einmarsch als «die aufregendste Zeitspanne» in seinem Leben bezeichnet. Hätten Frankreich und England diesen klaren Bruch des Versailler Vertrages mit militärischen Gegenmaßnahmen beantwortet, wäre Hitlers Herrschaft vermutlich beendet gewesen. Stattdessen beließen sie es, wie schon im März 1935 bei der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, auch diesmal bei verbalen Protesten.

Für diese Zurückhaltung gab es mehrere Gründe: Zum einen unterlagen die Westmächte, wie schon zuvor die konservativen

Bündnispartner der Nationalsozialisten, einer prinzipiellen Fehleinschätzung Hitlers. Sie glaubten, ihn in seinem Aggressionsdrang zähmen und das nationalsozialistische Deutschland in ein System der kollektiven Sicherheit einbinden zu können. Unter dem seit Mai 1937 amtierenden britischen Premierminister Neville Chamberlain bürgerte sich für die Politik der Beschwichtigung der Begriff appeasement ein. Mit seinen auf Täuschung und Verblüffung angelegten außenpolitischen Manövern kam Hitler solchen Illusionen entgegen.

Zum anderen sahen sich sowohl Frankreich als auch England durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die sie vor große wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme stellte, in ihren außenpolitischen Handlungsmöglichkeiten beeinträchtigt. Hinzu kam, dass sich in beiden demokratischen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg starke pazifistische Strömungen bemerkbar gemacht hatten, die jeden Gedanken an einen neuen Krieg in Europa geradezu als verwerflich erscheinen ließen. Für eine Politik verstärkter Aufrüstung, um NS-Deutschland auf diesem Feld Paroli bieten zu können, gab es in der Öffentlichkeit der Westmächte nur wenig Verständnis.

Zugute kam Hitler schließlich auch, dass unter den bürgerlichen politischen Eliten Westeuropas die Furcht vor dem Kommunismus verbreitet war. Indem er sich als Vorkämpfer gegen das bolschewistische Russland präsentierte, konnte der deutsche Diktator manche Vorbehalte im Westen gegen seine Person und sein Regime ausräumen. Die Sympathien gerade bei Angehörigen der britischen Oberschicht für Hitler waren nicht zuletzt auf diesen Umstand zurückzuführen. Geradezu hymnisch feierte der britische Medienmogul Lord Harold Harmsworth Rothermere nach einem Besuch in der Reichskanzlei im Dezember 1934 in seinem Blatt «Daily Mail» Hitlers Taten: «Welcher Zauber hat die Hoffnung in den deutschen Herzen wiederbelebt (...) und dieses mächtige Land derart elektrisiert, daß man sich wie in einem richtigen Kraftwerk vorkommt? Hitler. Das ist die ganze Antwort.» Nicht weniger überschwänglich äußerte sich der ehemalige britische

Luftfahrtminister, Lord Charles Stewart Henry Londonderry, nach einem Empfang bei Hitler im Februar 1936, und Lady Londonderry schrieb dem Reichskanzler: «Zu sagen, daß ich tief beeindruckt bin, trifft die Sache nicht. Ich bin erstaunt. Sie und Deutschland erinnern mich an die Schöpfungsgeschichte.»

In den Chor der Hitler-Bewunderer stimmte auch der frühere britische Premierminister David Lloyd George nach einem Besuch auf dem Obersalzberg im September 1936 ein: «Danken Sie Gott, daß Sie einen so wunderbaren Führer haben», soll er anschließend ausgerufen haben. Erst als Hitler die Maske des Friedenspolitikers fallen ließ und sich als der zeigte, der er war - ein Aggressor, der Europa der deutschen Herrschaft unterwerfen wollte -, wurden auch die Angehörigen der britischen Aristokratie, die auf Ausgleich und Freundschaft mit Nazi-Deutschiand gesetzt hatte, unsanft aus ihren Wunschträumen gerissen.

 
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