Warum gab sich Hitler mit dem Münchner Abkommen nicht zufrieden?
Nur wenige Tage nach dem Anschluss Österreichs fasste Hitler das nächste Ziel seiner Expansionspolitik ins Auge: die Zerschlagung der Tschechoslowakei. Als Hebel wollte er die sudetendeutsche Minderheit benutzen. Ende März 1938 gab er dem
Führer der Sudetendeutschen Partei, Konrad Henlein, als Marschroute mit auf den Weg, unter der Parole «Heim ins Reich» immer so hohe Forderungen zu stellen, dass sie von der Prager Regierung unmöglich erfüllt werden könnten. Am 30. Mai unterzeichnete der Diktator die Weisung für den «Fall Grün»: Es sei sein «unabänderlicher Entschluß, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen». Systematisch heizte die deutsche Propaganda in den folgenden Monaten die Spannungen an.
Generalstabschef Ludwig Beck, der gegen Hitlers Kriegspläne Protest einlegte, musste im August 1938 seinen Hut nehmen. In der deutschen Bevölkerung wuchs unterdessen die Angst vor einem Krieg. In den Meldungen der NS-Sicherheitsorgane war von einer regelrechten «Kriegshysterie» die Rede. Im September erreichte die Krise ihren Höhepunkt. Zweimal flog der britische Premierminister Neville Chamberlain nach Deutschland, um Hitler auf den Weg einer Verhandlungslösung zu drängen. Am 28. September, kurz vor Ablauf eines deutschen Ultimatums an die tschechische Regierung, konnte der Krieg durch Vermittlung Mussolinis noch einmal abgewendet werden. Für den folgenden Tag wurde eine Konferenz der vier Mächte - Deutschland, England, Frankreich, Italien - nach München einberufen.
Im Führerbau am Königsplatz setzten Hitler, Chamberlain, Mussolini und der französische Ministerpräsident Daladier am 30. September 1938 ihre Unterschrift unter das Münchner Abkommen. Es sah die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete vor. Ihre Besetzung durch die Wehrmacht sollte bereits am 1. Oktober beginnen und bis zum 10. Oktober abgeschlossen sein. England und Frankreich verpflichteten sich auf eine Beistandsgarantie des tschechoslowakischen Reststaates. Obwohl Hitler damit erneut einen großen Erfolg errungen hatte, war er mit dem Ergebnis alles andere als zufrieden. Denn die große Lösung, die Zerschlagung der Tschechoslowakei, war ihm verwehrt geblieben. Im internen Kreis ließ er keinen Zweifel daran, dass die Annexion der sudetendeutschen Gebiete für ihn nur eine Etappe darstellte. «Sein Entschluß, einmal die Tschechei zu vernichten, ist unerschütterlich», ließ er Goebbels am 2. Oktober, nur drei Tage nach Unterzeichnung des Münchner Abkommens, wissen.
Am 21. Oktober erging eine neue Weisung an die Wehrmacht zur «Erledigung der Rest-Tschechei». Parallel zu den militärischen Vorbereitungen ermutigte Hitler die separatistischen Bestrebungen der slowakischen Landesregierung unter Jozef Tiso. Am 14. März 1939 rief das Parlament in Preßburg die Selbständigkeit der Slowakei aus. Am selben Tag reiste der tschechische Staatspräsident Emil Hacha nach Berlin in der Hoffnung, wenigstens noch einen Rest der tschechischen Unabhängigkeit retten zu können. Doch Hitler setzte ihn in der Nacht vom 14. auf den 15. März so massiv unter Druck, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als «das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches» zu legen, wie es in einer ihm abgepressten Erklärung hieß.
In den Morgenstunden des 15. März 1939 überschritten die deutschen Truppen die tschechische Grenze und rückten wenige Stunden später in Prag ein. In der Nacht zum 16. März diktierte Hitler auf dem Hradschin den Erlass über die Errichtung des «Reichsprotektorats Böhmen und Mähren». Gleichzeitig wurde die Slowakei auf Bitten Tisos unter den Schutz des «Großdeutschen Reiches» gestellt. Hitlers Griff nach Prag sorgte in London für ein böses Erwachen. Chamberlain musste erkennen, dass das Münchner Abkommen das Papier nicht wert gewesen war, auf das es geschrieben worden war. Die Appeasement-Politik, die von der Vorstellung ausgegangen war, man könne Hitler durch Entgegenkommen beschwichtigen, war damit endgültig gescheitert.
Hitler wähnte sich im Zenit seines Triumphes. «Ich werde als der größte Deutsche in die Geschichte eingehen», tönte er vor seinen Sekretärinnen. Doch in Wirklichkeit hatte er mit dem Bruch des Münchner Abkommens eine rote Linie überschritten, kündigte sich nach der Hybris die Nemesis an. Am 31. Mai 1939 gaben die britische und französische Regierung eine Garantieerklärung für die staatliche
Unabhängigkeit Polens ab - des Landes, gegen das sich, wie leicht zu erkennen war, Hitlers Aggressionslust als Nächstes richten würde. So zeichnete sich die Konstellation ab, die nur wenige Monate später in den Zweiten Weltkrieg führen sollte.