Woran scheiterten Präsident Wilsons Friedensvisionen?

Dass die USA mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg Ende 1917 ihr ganzes Gewicht als Militärmacht und Industrienation in die Waagschale warfen, wirkte sich wenige Monate später entscheidend auf den Verlauf des Weltkriegs aus. Amerikanische Waffen fanden

Einsatz auf den Schlachtfeldern Frankreichs, etwa 50.000 Amerikaner wurden dort getötet und 200.000 verwundet. Aus amerikanischer Perspektive waren das schwere Opfer in einem Feldzug, der nur wenige Monate dauerte. Gemessen an den Millionen Toten, die die europäischen Mächte zu beklagen hatten, muteten diese Zahlen jedoch niedrig an. Bei der Entscheidung der Regierung des Deutschen Reiches, ein Waffenstillstandsgesuch an Präsident Woodrow Wilson zu übermitteln, sowie beim Thronverzicht des Kaisers, spielte die tr ügerische Hoffnung auf eine zuvorkommende Haltung der Amerikaner eine wichtige Rolle. In der Tat hatten die Kriegsziele, die Präsident Wilson am 8. Januar 1918 in den berühmten «14 Punkten» zusammenfasste, eine starke Wirkung auf alle kriegsführenden Parteien. Die «14 Punkte» betrafen im Wesentlichen drei Bereiche: Erstens ging es um die Etablierung neuer Nationen und dabei um die Verwirklichung des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung. Zweitens sprach Wilson sich für eine «offene Diplomatie» aus: für die Freiheit der Meere, einen unbehinderten Welthandel und eine unparteiische Regelung der kolonialen Ansprüche. Drittens schließlich plädierte der amerikanische Präsident für die Gründung eines Völkerbundes (die spätere UNO), der dafür sorgen sollte, dass eventuelle Konflikte innerhalb der neuen Friedensordnung gewaltfrei gelöst würden. Diese Botschaft erwies sich als effektive Propaganda, aber sie legte Wilson auf einen Kurs fest, der mit den Realitäten der europäischen Machtpolitik kaum vereinbar war. Als der amerikanische Präsident im Dezember 1918 in Europa eintraf, wo wenige Wochen später die Friedenskonferenz beginnen sollte, wurde der «Idealist aus Amerika» von den Massen in Paris mit Jubel begrüßt und als Friedensprophet gefeiert. Aber der französische Premier Clemenceau, der Wilsons «14 Punkte» bespöttelte, und Englands Premierminister Lloyd George, der die Wahlen mit dem Slogan «Hängt den Kaiser!» gewonnen hatte, waren an Wilsons versöhnlicher Haltung gegenüber Deutschland nicht interessiert. Der Versailler Friedensvertrag, der im Juni 1919 unterzeichnet wurde, blieb weit hinter Wilsons Ideen und Zielvorstellungen zurück. Am Ende saß der amerikanische Präsident zwischen allen Stühlen und wurde von allen

Seiten angefeindet. Auch die Deutschen, die illusionäre Erwartungen an die amerikanische Friedenspolitik geknüpft hatten, waren verbittert und bezichtigten Wilson der Täuschung und Scheinheiligkeit. Hinzu kam, dass viele Amerikaner die Kluft zwischen dem Versprechen einer friedlichen, demokratischen Welt und dem tatsächlichen Ergebnis des Weltkriegs als so groß empfanden, dass sie ernsthaft am Sinn der amerikanischen Kriegsbeteiligung und der erbrachten Opfer zu zweifeln begannen. Wilson tröstete sich mit der Gründung des Völkerbundes, der auf dem Weg der friedlichen Revision die Fehler und Schwächen der Friedensverträge nach und nach beseitigen würde. Aber gerade an der Völkerbundsatzung, die Wilson für das wichtigste Ergebnis des Versailler Friedensvertrags hielt, entzündete sich ein Streit in den USA, der das Scheitern seiner Politik besiegelte. Dass der Präsident auf einer 13.000 Kilometer langen Eisenbahnreise durch die Vereinigten Staaten, auf der er die Öffentlichkeit in täglichen Reden für den Wortlaut des Versailler Vertrags gewinnen wollte, zusammenbrach und einen schweren Schlaganfall erlitt, erschwerte die Aufgabe ebenso wie die Unfähigkeit Wilsons, taktische Zugeständnisse gegenüber seinen politischen Gegnern zu machen. Der Hauptvorwurf der Gegner des Völkerbunds lautete, die Bestimmungen der «kollektiven Sicherheit» würden die USA automatisch in jeden europäischen oder kolonialen Krieg hineinziehen. Bei der Schlussabstimmung im Senat im März 1920 verfehlte der Versailler Vertrag knapp die nötige Mehrheit zur Ratifizierung. Damit war Wilson auch mit demjenigen Ziel gescheitert, das ihm am meisten am Herzen lag. Die USA blieben dem Völkerbund fern und nahmen am Ende auch noch jene Sicherheitsgarantie zurück, die Präsident Wilson den Franzosen auf der Friedenskonferenz gegeben hatte. 1923 mussten die amerikanischen Truppen am Rhein abgezogen werden, die Wilson dort zum Schutze Frankreichs vor den Deutschen abgestellt hatte.

 
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