Was unterscheidet den Koran von der Bibel?

Die christliche Bibel ist zweiteilig, aufgegliedert in das Alte Testament, das den älteren jüdischen Glauben vor-talmudischer Zeit widerspiegelt und eine der Vorgaben für den christlichen Glauben bietet, und in das Neue Testament, die rein christliche Glaubenslehre, die von verschiedenen Autoren dargestellt wird. Die Berichte über Jesus von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes sind in den Evangelien niedergelegt. Dem katholischen Alten Testament sind aus protestantischer Sicht weitere «apokryphe» Schriften beigefügt. Der Koran hingegen ist sozusagen aus einem Guss. Er enthält alles, was Gott einst Mohammed mitgeteilt hat.

Oberflächlich gesehen gibt es viele Gemeinsamkeiten des Korans mit der Bibel, insbesondere mit dem Alten Testament. Auch im Koran erschafft Gott Himmel und Erde. Er formt Adam und macht ihn zu seinem Sachwalter auf Erden. Adam und seine Frau werden aus dem Paradies vertrieben. Die Geschichte von Kain und Abel hat ebenfalls ihren Niederschlag im Koran gefunden, ebenso die Erzählungen von der Sintflut, vom Untergang von Sodom und Gomorrha, von Joseph und Potiphars Weib, von Abraham und Mose. Auch die Zehn Gebote, die Könige David und Salomo samt der Königin von Saba und nicht zuletzt Hiob spielen im Koran eine Rolle.

Die neutestamentlichen Gestalten Jesus und Maria haben im Koran eine große Bedeutung (siehe Frage 80). Gott ist auch im Koran der Richter, der am Jüngsten Tag über das Geschick der Menschen entscheidet. Die biblischen Vorstellungen von Paradies und Hölle, von den Engeln und vom Teufel und vieles andere mehr finden sich auch im Koran.

Bei genauerem Hinsehen zeigen sich aber erhebliche Unterschiede in der Behandlung gemeinsamer Stoffe. So verführt im Koran nicht Eva den Adam dazu, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu verspeisen, sondern der Teufel (Iblis) selbst, und dieser auch nicht in Gestalt einer Schlange. Gott vertreibt zwar die beiden ersten

Menschen aus dem Paradies; aber anschließend versöhnt er sich wieder mit ihnen und vergibt ihnen in seiner großen Barmherzigkeit. Es gibt folglich keine Erbsünde; somit sind auch keine weitere Sühne und Erlösung der Menschheit nötig. Die Geschichte von Kain und Abel ist im Koran ein Lehrstück für die Umma: Man darf zwar keinen Brudermord begehen, aber wenn es um die Existenz der Gemeinschaft der Muslime geht, kann die Tötung des Feindes sogar geboten sein. Auch die Josephsgeschichte ist verändert (siehe die 12. Sure): Potiphars Weib erklärt ihren Freundinnen, warum sie Joseph nicht widerstehen konnte, obgleich dieser sich ihr verweigerte; nicht ganz schlüssig ist für einen heutigen Leser freilich, warum Joseph dennoch im Gefängnis landet. Einige Erzählungen - wie z.B. die lediglich aufgelisteten Wunder Jesu - sind nur stark verkürzt wiedergegeben, so dass man vermuten kann, sie seien den Hörern bekannt gewesen und deshalb nur angedeutet worden. Dabei kommt es dem Koran nicht darauf an, die Wunderberichte auszumalen, sondern er will vor allem zeigen, dass Jesus diese Wunder gar nicht alleine vollbringen konnte. Deshalb steht hinter jeder einzelnen Erwähnung eines Wunders Jesu die für den Koran wichtige Einschränkung «mit Gottes Erlaubnis».

Manche Besonderheit des Korans mag auch aus nachbiblischen Überlieferungen zu erklären sein, etwa die Vorstellung, Maria sei Teil der christlichen Trinität, oder die Erweiterung der Geschichte von Kain und Abel durch das Motiv des Raben, der im Boden scharrte, um Kain zu zeigen, wie er den Leichnam Abels bedecken könne. Kains Unfähigkeit, wie der Rabe zu handeln, bringt ihn dazu, seine Tat zu bereuen (Sure 5:31). Dieses Motiv kommt auch in einem jüdischen Midrasch vor. Anderes findet sich in der apokryphen christlichen Literatur, etwa das Wunder Jesu, der von ihm aus Lehm geformte Spatzen belebt (Sure 5:110), von dem die «Kindheitserzählung des Thomas» berichtet. Sicherlich muss man dem Koran seine eigene Deutung bestimmter tradierter Stoffe zugestehen, wie ja auch im Neuen Testament alttestamentliche Stoffe stark verändert worden sind. Muslime sehen dies freilich anders, denn für sie entsprechen allein die Wiedergaben im Koran der von Gott geoffenbarten

Wahrheit.

Die unterschiedliche Wertigkeit von Bibel und Koran hat zur Folge, dass die Theologen nicht in gleicher Weise an ihre Quellentexte herangehen: die Muslime gehen bis heute meist ahistorisch und interpretierend, die Christen in der Moderne überwiegend kritisch und analytisch vor. Um es kurz zu fassen: Die Bibel ist aus christlichtheologischer Sicht ein Bericht, der Koran für Muslime hingegen authentisches Wort Gottes.

 
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