Ökonomie – eine Brücke zwischen Alltagswelt und Politik
Politische und ökonomische Bildung sind heutzutage Teile der Allgemeinbildung, die in einer wechselseitigen Abhängigkeit zueinander stehen. Aufgrund ihrer Verschränkungen können angewandte ökonomische Aspekte in der politischen Bildung als Brücke zwischen Alltagswelt und Politik fungieren. [1]
„Die politische Bildung ist nicht frei darin, den Realitätsbereich Ökonomie zu thematisieren oder nicht. Sie muss vielmehr diesen Bereich in ihre Bildungsbemühungen einschließen. Sie muss es deshalb, weil Politik und Wirtschaft in einem Verhältnis der Interdependenz zueinander stehen. [...] Die Interdependenz ist so eng, dass weder Politik ohne Ökonomie noch Ökonomie ohne Politik verstanden werden können.“ (Detjen/Kruber 2007, S. 36)
Dieses Verstehen zu ermöglichen, ist unter anderem Anliegen der hermeneutischen Politikdidaktik. Das (Sinn-) Verstehen der sozialen und politischen Welt gilt als Vorstufe zur weiteren Interpretation im Rahmen der Ausprägung einer demokratisch politischen Bewusstseinsbildung der Lernenden (Deichmann 2009, S. 177). Im Kontext des sozialwissenschaftlichen Verstehens erfolgt das Erschließen hierbei im Rahmen der Interpretation des menschlichen Alltags, welcher durch die Aufnahme des Interpreten (Vorinterpretation) bereits als Abbild zweiter Ordnung vergegenwärtigt wird (Soeffner 2008, S. 167ff.).
„Sozialwissenschaftliches Verstehen unterscheidet sich vom alltäglichen Verstehen also dadurch, dass die Interpretationsleistungen hier nicht unter Rückgriff auf den Alltagsverstand geschehen, sondern auf dem Rückgriff auf extensiv aktiviertes Wissen und auch auf einem Vorrat an professionellem Sonderwissen beruhen.“ (Soeffner 2008, S. 168)
Derartiges Verstehen, insbesondere das Verstehen und die Interpretation im Rahmen der politischen Bildung, wird durch die herrschende „Distanz zwischen Alltagswelt und Politik“ erschwert (Deichmann 2004, S. 49ff.). [2] Vor dem Hintergrund dieser Tatsache richtet der „hermeneutisch arbeitende Politikdidaktiker“ (Deichmann 2009, S. 177) seinen Fokus auf die Alltagswelt und versucht, mittels politikdidaktischer Strategien, die Distanz zwischen Alltagswelt und Politik zu reduzieren (Deichmann 2004, S. 63ff.). Hierfür sind geeignete Zugänge zu wählen, die es den Lernenden ermöglichen, politische Sachverhalte und Handlungen zu verstehen und beurteilen zu können. Derartige Zugänge orientieren sich an dem von DEICHMANN begründeten „Modell der politikdidaktischen Struktur: Brücken zwischen Alltagswelt und Politik“ (Deichmann 2004, S. 65, Abb. 6). Mittels zweier Brücken, einem rationalen und einem emotionalen Zugang, wird es ermöglicht, die Sphäre der Politik (im Modell als „politischer Keil“ dargestellt), die in ihren Dimensionen in den erfahrbaren Alltag hinein reicht, dem Schüler näher zu bringen. Beide Zugänge bilden sowohl im Lernprozess als auch im Handlungsfeld des Schülers eine Einheit. Je nach Gewichtung sind beide Brücken verschieden zu beanspruchen. Der rationale Zugang kann beispielsweise durch die Analyse von Macht und Herrschaftsstrukturen bzw. von Regeln und Gesetzen bedient werden. Die emotionale Brücke kann der Identitätsbildung dienen, indem die Bedeutung von regulativen Ideen (z.B. Freiheit) bewertet wird (Deichmann 2004, S. 66f.).
Das Modell liefert einen entscheidenden Anknüpfungspunkt zur Einbindung des Realitätsbereichs der Ökonomie im Rahmen der verstehenden Politikdidaktik: Der Realitätsbereich Ökonomie als gesellschaftliches Teilsystem stellt eine weitere Dimension der Politik dar, die ebenfalls aufgrund der Interdependenz zwischen Politik und Ökonomie in den erfahrbaren Alltag der Menschen vordringt; Ökonomie als Bestandteil des „politischen Keils“. Diesen Rückschluss zieht DEICHMANN schon im Jahre 1979 in seinem Aufsatz „Politische Institutionen und Bürgeralltag – Ein didaktisches Konzept zur Überwindung der Distanz zwischen Alltagswelt und Politik“ (Deichmann 1979), indem er die Möglichkeit der besseren Orientierung des Bürgers in derartigen Teilbereichen (z.B. ökonomische (Konsumentenrolle) oder bürokratische (Rollenbeziehung zum Verwaltungsbeamten)) einräumt und hieraus didaktische Konsequenzen ableitet (Deichmann 1979, S. 107f.). So sind unter anderem ökonomische Institutionen geeignet, die Distanz zwischen Alltagswelt und Politik zu reduzieren und damit als didaktische Strategie in der politischen Bildung einzubeziehen (Deichmann 1979, S. 108). [3],[4]
SANDER sieht das Vordringen ökonomischer Perspektiven auch in der „gestiegenen politischen Relevanz für die modernen Gesellschaften im Globalisierungsprozess auf der einen und einem neuen interdisziplinären Denken in der avancierten ökonomischen Theorie auf der anderen Seite“ (Sander 2008, S. 133). [5] Folglich ergibt sich die Möglichkeit, mittels ökonomischer Aspekte der Distanz zwischen Alltag und Politik zu begegnen, indem diese Aspekte beim
„Brückenschlag“ (rational und/oder emotional) berücksichtigt werden.
DETJEN/KRUBER begründen die wechselseitige Bedingung zwischen Politik und Ökonomie nicht nur in ihrer Interdependenz sondern auch in ihrer Differenz. Die Interdependenz ergibt sich aus vier Abhängigkeiten (Detjen/Kruber 2007, S. 36ff.):
1. „Ökonomische Prozesse und ihre Ergebnisse bilden Voraussetzungen für politische Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten.“ (ebd.)
2. „Ökonomische Prozesse haben Auswirkungen auf die Stabilität von Regierung und Staat.“ (ebd.)
3. „Die Politik trifft die grundlegende Entscheidung über die Wirtschaftsordnung.“ (ebd.)
4. „Politische Ordnung und wirtschaftliche Ordnung stehen in einem engen Verhältnis zueinander.“ (ebd.)
Die Bedingung der Politik und Ökonomie aus ihrer Differenz heraus ist der jeweils eigenen Handlungslogik geschuldet. Während beispielsweise wirtschaftliche Entscheidungen eher dem Prinzip der ökonomischen Rationalität unterliegen, geht es in der Politik auch um Gestaltungsspielräume und Durchsetzungsprozesse (Detjen/Kruber 2007, S. 38f.). Hieraus ergibt sich die unterschiedliche Betrachtung und Urteilsbildung, die Schülerinnen und Schüler bei der Überwindung der Distanz zwischen Alltag und Politik ebenfalls erkennen müssen.
- [1] Die Inhalte des vorliegenden Abschnitts zur Brückenfunktion der Ökonomie wurden vom Verfasser bereits an anderer Stelle bearbeitet (siehe und vgl. Piller 2014, S. 57ff.).
- [2] Ursachen werden zum Beispiel rollentheoretisch erklärt, das heißt, aufgrund vorliegender Differenzen zwischen Rollenerwartung und Rollenwahrnehmung prägen sich Distanzen (Deichmann 2004, S. 57ff.). Im Weiteren tragen die gesellschaftliche Entwicklung zur Globalisierung und Individualisierung sowie die Veränderung und Erweiterung des Wissens zur weiteren Distanzierung bei (Deichmann 2004, S. 60ff.).
- [3] Einerseits reduziert die Besichtigung ökonomischer Institutionen und die damit verbundene Diskussion mit gesellschaftlichen Vertretern die soziale Distanz, andererseits ermöglichen die daraus gewonnen Einsichten, die kognitive Distanz zu verringern (Deichmann 1979, S. 108).
- [4] Mit dem Ansatz, ökonomische Institutionen zur Reduzierung der Distanz zwischen Alltagswelt und Politik heranzuziehen, kann auch bereits an dieser Stelle auf die Bedeutung der Integration institutionenökonomischer Aspekte verwiesen werden.
- [5] Diesen Gedanken weiterführend, siehe auch Abschnitt 1.1 dieser Arbeit und die Berufung auf Beck 1986/2010 bzw. Beck 2008