Historische Entwicklung und Forschungsperspektiven
Die folgenden Ausführungen werden durch drei Argumentationsschritte strukturiert. Zunächst wird ein knapper Überblick zur politischen Geschichte Südostasiens geboten. Hierdurch sollen die kritischen Vorbedingungen herausgearbeitet werden, die die Entwicklung der heute bestehenden politischen Systeme beeinflusst haben, etwa indem sie die Entscheidungen nationaler Eliten in der Frühphase der politischen Entwicklung angeleitet haben und durch den Mechanismus der Pfadabhängigkeit die Institutionenordnungen in der Region bis in die aktuelle Gegenwart prägen. Sodann folgt ein Überblick zum Stand der politikwissenschaftlichen Südostasienforschung. Anschließend werden drei besonders einflussreiche Forschungsdebatten aus den letzten beiden Dekaden skizziert und kommentiert.
Die historischen Ursprünge der politischen Systeme
Der Begriff Südostasien ist ein Neologismus. Vereinzelt taucht er bereits im Schrifttum der 1920er Jahre auf. Erst nachdem 1943 das „Südostasiatische Oberkommando der alliierten Streitkräfte“ gegründet wurde, um den Feldzug gegen die Japaner in dem Raum nördlich von Australien, südlich von China und östlich von Indien zu führen, hat sich der Begriff allmählich im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt.
Geschichte, Demographie, Ökonomie und Politik Südostasiens lassen sich am besten mit dem Begriff der Vielfalt umschreiben. Von der vorkolonialen Zeit über die Kolonialzeit (16.–20. Jahrhundert) bis zur aktuellen Gegenwart erscheint Südostasien als eine Region tiefer Gegensätze und Unterschiede. Trotz ihrer Diversität kann Südostasien im sozialwissenschaftlichen Sinne als „Region“ gelten, da es sich sowohl um einen geografischen als auch, im Sinne von Lembcke (2009), um einen politischen Raum handelt. Sichtbarstes Zeichen ist die Kooperation von zehn der elf Staaten im Rahmen der 1967 gegründeten Assoziation Südostasiatischer Nationen (ASEAN), welche sich trotz gelegentlicher Krisen von der Gründung bis heute sukzessive zu einem effektiven Institutionenrahmen für die Bearbeitung regionaler politischer Probleme entwickelt hat (Dosch 1997).
Seit jeher war Südostasien aufgrund seiner Bedeutung für den arabisch-indischchinesischen Seehandel ein Schmelztiegel unterschiedlicher religiöser und kultureller Einflüsse. In vorkolonialer Zeit vermischten sich chinesische (Konfuzianismus), indische (Hinduismus, Buddhismus) und arabische (Islam) Elemente mit indigenen Eigenheiten der Region. Zunächst durch portugiesische und spanische Eroberer, später durch Holländer, Briten, Franzosen und Amerikaner, kamen ab dem 16. Jahrhundert verstärkt westliche Einflüsse hinzu (Andaya 1999; Christie 2000; Houben 2003; Elson 2009).
Freilich variierte die Durchdringungskraft und Stärke dieser Einflüsse in den verschiedenen Gebieten erheblich. Hinduistische Einflüsse kultureller und religiöser Art wirken bis heute vor allem in Thailand, Kambodscha, Bali und Java. Die Sinisierung war vorrangig in Nordund Mittelvietnam sowie für das heutige Singapur von Relevanz. Die Islamisierung der Region erfasste vor allem die malaiische Halbinsel sowie Teile der südostasiatischen Inselwelt (Fealy 2009), während das Christentum in den Philippinnen und in Vietnam sowie unter vielen Minderheitenvölkern des kontinentalen Hochlands Fuß fassen konnte (Villers 1993).
In geographischer Hinsicht unterteilt sich die Region in einen insularen oder maritimen Teil (Brunei, Indonesien, die Philippinen, Osttimor und Teile von Malaysia) sowie Festlandoder Kontinentalsüdostasien (Burma, Laos, Kambodscha, Vietnam, Thailand und die malaiische Halbinsel). Das maritime Südostasien ist in sprachlich-kultureller Hinsicht malaiisch-polynesisch und religiös durch den Islam (bzw. das Christentum auf den Philippinen) geprägt. Im kontinentalen Teil dominieren die chinesisch-tibetischen (Tibetisch-Birmanisch, Thai, Schan, Laotisch, Vietnamesisch) und Mon-Khmer Sprachfamilien sowie der Buddhismus. Zudem ist innerhalb der beiden Teilregionen zwischen
„Hochland“ und „Tiefland“ zu differenzieren. Während die zuletzt genannten Gebiete die ökonomischen, politischen und kulturellen Zentren der heutigen Staaten darstellen, bilden die zuerst genannten Gebiete traditionell die Siedlungsräume ethnischer Minderheiten. Häufig sind sie spärlicher besiedelt und ökonomisch rückständiger als die im Tiefland gelegenen Zentralregionen.