Der praktische Weg in den Politikunterricht
„Es bedarf keiner großen Überlegung, um zu erkennen, dass der Homo oeconomicus keinesfalls das normative Leitbild für die politische Bildung abgeben darf. […] Die Zurückweisung des Homo oeconomicus als normative Leitfigur für die politische Bildung bedeutet allerdings nicht, die Übernahme von Modellen und Theorien aus der Ökonomik kategorisch abzulehnen.“ (Detjen 2006, S. 73f.)
Ein Fokus für die Anwendung des homo oeconomicus in der politischen Bildung lässt sich anhand des „Trittbrettfahrer-Dilemmas“ eröffnen und als Problem exemplifizieren. Für Schülerinnen und Schüler ergibt sich der Alltagsweltbezug beispielsweise am konkreten Problem der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne hierfür den Fahrpreis zu begleichen. Die Schülerinnen und Schüler werden vordergründig mit Hilfe des homo oeconomicus erkennen, dass das Fahren ohne Fahrschein ökonomisch sinnvoller ist, wenn der Erwartungswert aus Entdeckungswahrscheinlichkeit und Höhe der Sanktionen geringer ist als der Preis eines Fahrscheins. Verlässt man mit ihnen diese zunächst individuelle Ebene und erhebt das Problem auf das gesellschaftlich-kollektive Niveau, der Sicherstellung des öffentlichen Nahverkehrs, werden sie erkennen, dass sich die Auswirkungen eines solchen Verhaltens auf Qualität und Quantität des Nahverkehrs bzw. auf Fahrpreise oder Zuschüsse der Kommune auswirken müssen. Unter dieser Perspektive trägt der homo oeconomicus nunmehr zur Urteilsbildung bei, da sich die genannten Auswirkungen des „Trittbrettfahrens“ ebenfalls auf den individuellen Nutzen und die Kalküle der Schülerinnen und Schüler auswirken. Mittels homo oeconomicus werden sie zu einem verbreiterten Spektrum von Erkenntnissen gelangen, die sich zum Beispiel auf höhere Sanktionen/Strafen beziehen, aber auch bis zur Einstellung des Nahverkehrs als Folge erstrecken können.
Ein ähnliches Problem ergibt sich in der Beurteilung am Beispiel der staatlichen Umverteilung mittels Steuern. Aus individueller Perspektive des homo oeconomicus werden sogenannte wohlhabende/reiche Bürger zunächst steuerliche Umverteilungsmaßnahmen ablehnen und bei Wahlen einer solchen Politik den Vorzug geben, die sie vor zu hoher steuerlicher Umverteilung schützt. Auf gesellschaftlich-kollektiver Ebene werden die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass auch „Wohlhabende/Reiche“ ihr Nutzenkalkül erweitern müssen, wenn gesellschaftliche Missstände aufgrund fehlender Umverteilungsmaßnahmen dazu führen, dass politische Unruhen die Ordnung und Sicherheit der Bürger gefährden. Im Sinne des homo oeconomicus müssen nunmehr auch höhere Kosten für die persönliche Sicherheit (Wachdienst, Alarmanlagen, Personenschützer etc.) oder schwindende Möglichkeiten zur Sicherung und Mehrung ihres „Reichtums“ in das Nutzenkalkül einfließen. Diese Erkenntnisse führen wiederum zu rationalen Einsichten zur Beurteilung des Problems der staatlichen Umverteilung. Die höchste Form einer solchen, auf den homo oeconomicus basierenden Einsicht, wäre dann die Überzeugung, Steuerzahlungen als Garant für ein gemeinschaftliches Zusammenleben (gern) zu akzeptieren, weil es der soziale Friede und die staatlichen Leistungen schlicht und ergreifend „wert“ sind. Eine auf dieser (ökonomischen) Grundlage entstandene Einsicht, die für Schülerinnen und Schüler unter Umständen sogar greifbarer ist, steht einem moralisch-außerökonomischen Urteil im Rahmen der politischen Bildung nicht nach – hier zählt das Ergebnis und nicht der Weg des Zustandekommens über beispielsweise anderweitig mögliche politikdidaktische Kategorien wie Gerechtigkeit oder Solidarität. In diesem Kontext jedoch weiter gedacht, wäre es nunmehr auch denkbar, über den homo oeconomicus, derartige Kategorien zu thematisieren und das Problem über einen solchen Zugang fortführend zu erörtern.
Anmerkung: Selbstverständlich lassen weitere aktuelle Problemfelder die Einbeziehung des homo oeconomicus im Politikunterricht und damit die Bildung analoger Argumentationsketten zu. Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang auf globale Perspektiven und mögliche Fragen zur ökonomischen Notwendigkeit von Entwicklungshilfen oder einen härteren Kurs im Umgang mit Steueroasen verwiesen.
Vor dem Hintergrund der Übertragbarkeit dieser Beispiele auf andere Sachverhalte ist es wichtig, mögliche Fehlerquellen bei der Bildung ökonomischer Urteile unter Verwendung des homo oeconomicus zu berücksichtigen. Solche Fehler sind jedoch nicht dem Modell geschuldet. Neben Fehlinterpretationen ökonomischer Zusammenhänge liegen Fehlerquellen einerseits in den unterschiedlichen Ausprägungen von Anreizen, andererseits in Divergenzen in der Ausprägung von individuellen Bewertungsmaßstäben (Über-/Unterbewertung). Die Tragfähigkeit des homo oeconomicus wird sowohl im Politikals auch im Wirtschaftsunterricht leiden müssen, wenn bei der Bildung von umfassenden Nutzenkalkülen lediglich bezifferbare Kosten herangezogen werden, Fehlanreize unberücksichtigt bleiben und inadäquate „Wertungen“ vorgenommen warden. [1]
Die Forderung nach einer umfassenden Bildung von Nutzenkalkülen unter Berücksichtigung von Werteaspekten bei der „Bewertung“ politischer Sachverhalte ist vor dem Hintergrund der Verwendung des homo oeconomicus in der politischen Bildung unumgänglich. [2] Die illustrierten Beispiele zum „Trittbrettfahrer-Problem“ oder zur staatlichen Umverteilung haben die Lesart einer adäquaten Bewertung bereits impliziert, indem solche Werteaspekt bereits in die Analyse und Beurteilung des Problems eingeflossen sind – der „Wert“ des ÖPNV als Mobilitätsgarant für die breite Bevölkerung oder der „Wert“ einer friedlichen und sozialen staatlichen Ordnung. Das Zustandekommen solcher umfassenden Nutzenkalküle lässt die Grenzen des rein ökonomischen Wertes mit dem moralischen Urteil verschwimmen. Der homo oeconomicus fungiert als didaktisches Medium, mit dessen Hilfe beim Aufstellen von Nutzenkalkülen ökonomische Bewertungen mit moralischen Wertungen verknüpft werden können. Das heißt, für Politikunterricht steht nicht die Instrumentalisierung des homo oeconomicus in Frage, sondern das Problem der umfassenden Bildung von Nutzenkalkülen, einschließlich ihrer zugrundeliegenden Bewertungsmaßstäbe, die sich im Hinblick auf Wertungen, Werte und moralische Urteile auch auf ethische Dimensionen ausdehnen und damit den „scheinbaren“ Gegensatz von Moral und Eigennutz (Suchanek 2007, S. 47ff.) entkräften können. Um also der zielgerichteten Anwendung des homo oeconomicus und gleichsam der Nutzung seiner Vorteile gerecht zu werden, ist es hierbei notwendig, im Rahmen des Modells einerseits ökonomische Bewertungsmaßstäbe (Preise, Kosten, Anreize, Sanktionen usw.) zu vermitteln und andererseits gleichsam Werteerziehung im Hinblick auf nicht bezifferbare „Werte“ und moralische Wertungen zu betreiben. In diesem Spektrum zwischen Individualität (Nutzenmaximierung) und Sozialität (Gemeinwohl) steht der homo oeconomicus nicht mehr als gesellschaftlich isoliertes neoklassisches Menschenbild im Raum, sondern ist durchaus kompatibel im Hinblick auf das aristotelische Menschenbild des zoon politicon, welches als normatives Leitbild für Politikunterricht fungiert (Detjen 2006, S. 74). Der Kritik einer „begrenzte(n) Wertemechanik“ des homo oeconomicus (Sturm 2000,
S. 410) kann auf diesem Wege begegnet werden.
Zusammenfassend ist der Einsatz des homo oeconomicus als „Gelenkstelle“ im Politikunterricht in mehrfacher Hinsicht zu befürworten:
Der homo oeconomicus verkörpert ein standardökonomisches Modell, welches neben einer ökonomischen Perspektive (im Rahmen von Multiperspektivität) auch einen puristisch ökonomischen Fokus widerspiegelt und dem Anspruch von sozialwissenschaftlicher Bildung gerecht wird. [3]
Die Analyse und Beurteilung im politischen Lernprozess fordert die Betrachtung von der Ganzheitlichkeit der politischen Realität (Deichmann 2004,
S. 86). Hierzu ist es notwendig, sich der gesellschaftlichen Teilbereiche (auch Ökonomie) einschließlich ihrer fachwissenschaftlichen Konzepte, Theorien und Modelle zu bedienen (Fischer 1970, S. 43; Gagel 2000, S. 11; Deichmann 2004,
S. 87) und diese im hermeneutischen Sinne für die politische Bildung nutzbar zu machen (Deichmann 2009, S. 175ff.).
Im speziellen Fall und unter der Berücksichtigung der Kritik am Modell des homo oeconomicus sind Lernende auch mit Modellen zu konfrontieren, die nicht die besten Eigenschaften für ein friedvolles und moralisch einwandfreies Zusammenleben verkörpern. Somit sind auch gesellschaftlich schädliche Umstände durch Aufklärung kenntlich zu machen (Loerwald/Zoerner 2007, S. 3). Der homo oeconomicus kann dem Erliegen naiver Moralvorstellungen zuvorkommen (Suchanek 2007, S. 185f.) [4] und eine worst-case-Perspektive liefern, indem er ein Menschenbild mit für das soziale Zusammenleben ungünstigen Eigenschaften darstellt. Es dient einer umfänglichen Analyse, auch einen worst-case im Politikunterricht (verkörpert im homo oeconomicus) zu behandeln, bzw. auf einen solchen explizit zu verweisen. [5]
Mittels Erweiterung des Perspektiventableaus für die politische Bildung trägt das Modell des homo oeconomicus mit Blick auf Kenntnisse, Erkenntnisse und Einsichten (Fischer 1970, S. 91ff.) zu einer verbesserten Analyseund Urteilsfähigkeit in der politischen Bildung bei.
Der homo oeconomicus kann als didaktisches Medium fungieren, mit dessen Hilfe beim Aufstellen von individuellen Nutzenkalkülen ökonomische Bewertungen mit moralischen Wertungen verknüpft werden können. Die Herstellung von Wertebezügen erfolgt hierbei über die rationalen Aspekte des Modells, welche weiterführende Beurteilungsperspektiven über tangierende politikdidaktische Kategorien auf Werteebene schaffen (Multiperspektivität).
Den Gegnern des homo oeconomicus sei zugestanden, dass die Lesart zahlreicher Ökonomen (nur) mittels des homo oeconomicus die Welt erklären zu können, eine „Arroganz“ der eigenen Wissenschaft verkörpert. Kritiker, die diese Sichtweise zurecht in Abrede stellen und Multiperspektivität fordern, dürfen jedoch nicht darin verfallen, den homo oeconomicus als wichtiges Analyseinstrument für das gesamte Spektrum der Sozialwissenschaften zu „verteufeln“. Eine solche Ablehnung birgt die große Gefahr, ein hervorragendes Analyseinstrument per se auszuschließen, was bei angehenden bzw. praktizierenden Lehrerinnen und Lehrern den Eindruck erwecken könnte, dass das Modell des homo oeconomicus falsch oder für eine Anwendung im Unterricht ungeeignet sei. Der homo oeconomicus ist als ökonomisches Akteursmodell bei einer geforderten kritischen Betrachtung ein unverzichtbares Analyseinstrument zur Erklärung menschlichen Verhaltens und liefert eine ökonomische Perspektive.
- [1] Im Kontext illustrativ überzeugt das weit verbreitete Zitat von OSKAR WILDE: „Heutzutage kennen die Menschen den Preis von allen Dingen und den Wert von keinem.“ (Wilde 1890/1985, S. 65)
- [2] Diese Forderung ist gleichwohl auch an die Wirtschaftskunde zu richten!
- [3] Einseitige (ökonomische) Perspektiven, die die Aufgabe haben, einen besonderen Fokus zu erzeugen, sind grundsätzlich nicht abzulehnen. Im Gegenteil, ihre Anwendung ist unter der Maßgabe zu begrüßen, wenn der einseitige Fokus kenntlich gemacht wird. In dieser Art der Anwendung darf kein Verstoß gegen das Kontroversitätsgebot hineininterpretiert werden (Hedtke 2002a, S. 175).
- [4] „Kein Manager oder Politiker kann sich in seinem Beruf naive Moral leisten. Deshalb soll gerade vermieden werden, dass diejenigen, die moralisch handeln, dies nur solange tun, solange sie nicht darüber nachdenken; sowohl das Eigeninteresse als auch die Moral bedürfen in der modernen Gesellschaft der Aufklärung.“ (Suchanek 2007, S. 185f.)
- [5] „Auf diese Weise kann gerade eine Analyse mit Hilfe des homo-oeconomicus-Ansatzes Gefahrenstellen für die Tragfähigkeit moralischer Standards aufzeigen, wenn sie deutlich machen kann, wo normgebundenes Verhalten in anonymen gesellschaftlichen Kontexten durch Trittbrettfahrer ausbeutbar ist.“ (Loerwald/Zoerner 2007, S. 3)