Ein Vergleich von Genomsequenzen
Wissenschaftler vergleichen die gegenwärtige Situation in der Biologie mit der Zeit der großen Forschungs- und Entdeckungsreisen im 15. und 16. Jahrhundert, nachdem wesentliche Fortschritte in der Navigation und im Schiffsbaugemacht wurden. In den letzten beiden Jahrzehnten sind erhebliche Fortschritte in der Molekulargenetik gemacht worden, die sich nicht zuletzt in der Sequenzierung von ganzen Genomen widerspiegeln. Parallel dazu wurden ebenso rasante Fortschritte in der Informationstechnik und in der Datenverarbeitung erzielt. Damit stehen neue Techniken zur Abschätzung der Genexpression über komplette Genome zur Verfügung, die verfeinerte theoretische Ansätze zur Analyse der Wechselwirkung von Genen und ihren Produkten in komplexen Systemen erlauben. Wir stehen also tatsächlich am Beginn eines neuen Zeitalters in der Biologie.
Der Vergleich der Genomsequenzen verschiedener Arten enthüllt vieles über die Evolutionsgeschichte des Lebens - von den Anfängen bis zur Gegenwart (=> Abbildung 21.8). Ebenso tragen vergleichende Untersuchungen der genetischen Steuerung der embryonalen Entwicklung von Tieren dazu bei, die Mechanismen aufzuklären, die zu unserer heute vorliegenden Biodiversität geführt haben. Im abschließenden Teil dieses Kapitels wollen wir daher erörtern, was wir mit diesen beiden methodischen Ansätzen über diese Grundfragen der Biologie lernen können.

Abbildung 21.8: Die Entwicklungsgeschichte der drei Domänen des Lebens. Der oben abgebildete Stammbaum gibt die ursprüngliche Verzweigung der Abstammungslinien von Bakterien, Archaeen (Archaebakterien) und Eukaryonten wieder. Ein kleiner Ausschnitt aus der eukaryotischen Entwicklungslinie ist darunter abgebildet und stellt Verzweigungen im Stammbaum der Säugetiere dar, die wir in diesem Kapitel behandeln.

Abbildung 21.9: Homöotische Gene sind in der Evolution erhalten geblieben und steuern die Entwicklung bei Taufliegen und Mäusen. Homöotische Gene steuern die Ausbildung anteriorer und posteriorer Körperteile und weisen sowohl bei Taufliegen (Drosophila sp.) als auch bei Mäusen (Mus sp.) die gleiche Reihenfolge im Chromosom auf. Jeder farbige Streifen an den schematisch dargestellten Chromosomen stellt ein hombotisches Gen dar. Bei Drosophila liegen alle homöotischen Gene auf demselben Chromosom. Mäuse und andere Säugetiere besitzen mehrere solcher Gengruppen, die bei der Labormaus auf vier verschiedenen Chromosomen liegen. Die Farben entsprechen denen der Körperteile des Embryos und des ausgewachsenen Tieres, die von dem entsprechenden Gen beeinflusst werden. Alle diese Gene sind bei Fliegen und Mäusen praktisch identisch. Schwarze Kästchen entsprechen Genen mit weniger ähnlichen Homöoboxen.
Vergleich von Entwicklungsprozessen
In der evolutionären Entwicklungsbiologie (auch als „Evo-Devo"-Forschung, engl. evolution and development, bezeichnet) vergleicht man die Entwicklungsgänge verschiedener vielzelliger Organismen miteinander. Man versucht damit zu verstehen, wie sich die zugrunde liegenden Mechanismen entwickelt haben und wie bestimmte Veränderungen zur Ausbildung der charakteristischen Merkmale eines Lebewesens geführt haben oder neu ausgeprägt werden (=» Abbildung 21.9). Mit der Anwendung gentechnischer Methoden und der Flut an Sequenzdaten aus zahlreichen Genomen beginnen wir zu erkennen, dass kleine Unterschiede in der Sequenz von Genen oder ihrer Regulation ausreichen, um die deutlich verschiedenen morphologischen Merkmale nahe verwandter Arten zu erklären. Umgekehrt hilft uns die Aufklärung der zugrunde liegenden molekularen Mechanismen zu verstehen, wie die enorme Zahl unterschiedlicher Lebensformen auf unserem Planeten entstehen konnte, und trägt damit wesentlich zum Verständnis der Evolution bei.